From the Worldwide Faith News archives www.wfn.org


Das LWB-Projekt Bukora nach dem Massaker im Maerz


From FRANK_IMHOFF.parti@ecunet.org (FRANK IMHOFF)
Date 10 Jul 1998 11:42:34

DIE HERZEN HEILEN

Trotz weltweiter Abkommen gegen Voelkermord und ungeachtet der Allgemeinen
Erklaerung der Menschenrechte tat die internationale Gemeinschaft nur
wenig, um den Genozid in Ruanda im Jahr 1994, einen der schlimmsten im
diesem Jahrhundert, zu verhindern. Die sozialen und psychischen
Auswirkungen sind auch noch vier Jahre spaeter unvorstellbar, ebenso wie
das Leiden der Bevoelkerung. Ein Programm des Lutherischen Weltbundes
(LWB), in dem vor allem Ruander mitarbeiten, hat bislang schweren
Pruefungen standgehalten. Jetzt haengt das Schicksal dieser jahrelangen
Nothilfe-und Rehabilitationsarbeit immer mehr von einer neuen Partnerschaft
mit Pastoren und der Kirche ab.

New York (USA)/Genf, 9. Juli 1998 (lwi) -Pastor John Rutsindintwarane war
einer, auf den die Moerder eines Nachts im Maerz dieses Jahres Jagd
machten. Damals wurden bei einem Mordanschlag auf das LWB-Siedlungsprojekt
Bukora in der Praefektur Kibungo drei LWB-Mitarbeiter und fuenf Bewohner
umgebracht. Pastor John ist Tutsi. Er wuchs in einer Familie auf, die nach
Tansania geflohen war und jetzt wieder nach Ruanda zurueckgekehrt ist.

Nach der grausamen Tat kam er gemeinsam mit anderen zu der Siedlung
zurueck. Er wollte Trost spenden, sich aber auch eingehender mit dem
Geschehenen auseinandersetzen und den Grund fuer die grausame Tat
verstehen. "Wir sind hier, um die Herzen zu heilen", sagt Rutsindintwarane,
der Leiter der neugegruendeten lutherischen Kirche in Ruanda. Mit diesem
Grundsatz setzen er und seine LWB-Kollegen Hoffnungszeichen fuer ein neues
Ruanda.

In den Koepfen der Leute bleibt das alte Ruanda als eines der grausamsten
Lehrbeispiele fuer ein politisches Fiasko und die Schrecken eines
Buergerkrieges bestehen. In den Herzen sitzt die Tragoedie noch tiefer, es
handelt sich um eine Katastrophe des menschlichen Geistes.

Wer kann in einem Jahrhundert des Holocausts begreifen, wie und warum ein
ums andere Mal Menschenleben zerstoert wurden? Mit dieser Frage muessen
sich auch die Tischler, Lastwagenfahrer, Sozialarbeiter und nun auch die
beiden Pastoren herumschlagen, die mit dem Lutherischen Weltbund in Ruanda
zusammenarbeiten. Sie alle wurden darum gebeten, trotz der Gewalt, die
weiterhin in Teilen des Landes herrscht, ihre Arbeit fortzusetzen. Der LWB
ist entschlossen, zu bleiben -vor allem auch in der Siedlung, in der es im
Maerz dieses Jahres zu Angriffen gekommen war -auch wenn die finanzielle
Unterstuetzung fuer die Arbeit ausgerechnet dort zurueckgegangen ist. "Wir
haben gerade hier eine besondere Verpflichtung, auch wenn wir keinen
Pfennig mehr haben", sagt der LWB-Beauftragte in Ruanda, Jaap Aantjes.
"Bukora ist der letzte Ort, den wir verlassen wuerden." Bukora liegt im
relativ ruhigen Suedosten Ruandas. Auf einer ehemaligen Ranch haben die
Menschen damit begonnen, nach 40 Jahre Unruhen wieder ein "normales" Leben
zu fuehren. In ihren und Pastor Johns Lebensgeschichten spiegelt sich die
Schreckensgeschichte Ruandas wider: Hier leben Tutsis, die schon in seit
den 60er Jahren vor den Massakern geflohen waren, ebenso wie Hutus, die
1994 vertrieben wurden. Im heutigen Ruanda werden die zwei
Fluechtlingsgruppen als "Old Caseload" beziehungsweise "New Caseload" - als
alt beziehungsweise als neu zu bearbeitende Faelle, bezeichnet. Unter der
neuen Regierung sind die Bezeichnungen "Tutsi" und "Hutu" nicht mehr
erlaubt.

Waehrend Gewalt an anderen Orten die Wiederansiedlungs-und
Wiederaufbaubemuehungen oft vereitelt hat, ist es im Gebiet um Bukora ruhig
geblieben. Der LWB hat hier einen festes Standbein, dank der
jahrzehntelangen Arbeit im benachbarten Tansania und seiner Schluesselrolle
in der juengst erfolgten massiven Rueckfuehrung. Die "Old Caseload", die in
den 60er Jahren geflohen sind, liessen sich mit Hilfe des LWB in Tansania
und Uganda nieder. 1994 fanden die "New Caseload" Zuflucht in riesigen
Grenzlagern, zu deren Errichtung der LWB beigetragen hatte. Diese Menschen
versuchen jetzt wieder fuer sich eine Heimstatt aufzubauen.

Das Bukora-Projekt funktioniert gut. Neue Wohnungen, Schulen, Kliniken,
Strassen und Gaerten setzen Hoffnungszeichen fuer ein neues Ruanda.

Die Probleme in den noerdlichen und westlichen Landesteilen, wo die Miliz
von 1994 weiterhin operiert und die Armee mit Vergeltungsmassnahmen
zurueckschlaegt, wo die Taeter von 1994 die Zeugen von 1994 und die Zeugen
die Taeter toeten, scheinen weit weg zu sein.

*Der Tag des Ueberfalls

Die Probleme schienen tatsaechlich "weit weg" zu sein, bis zu den
schrecklichen Ereignissen vom 11. Maerz 1998. Der Mitarbeiterstab sass noch
um neun Uhr abends im Buero zusammen, als sich die bewaffneten Angreifer
geraeuschlos im Dunkeln anschlichen. "Wir sind gekommen, um Tutsis zu
toeten", schrien sie und riefen die Namen einiger Mitarbeiter. Im
darauffolgenden Handgemenge wurden drei Menschen getoetet: Ribayita Donath,
Traktorfahrer; Karimba Johnson,  Lastwagenfahrer, und Ngaramba Innocent,
Tischler. Ein anderer Traktorfahrer, Rwamuhabwa Paul, wurde schwer
verletzt.

Die 30 Angreifer richteten dann ihre Gewehre, Macheten und Hacken auf die
Bewohner der Siedlung, fuenf weitere Menschen kamen um, zwei wurden
verletzt. Es haette noch schlimmer kommen koennen. Waehrend des Tages war
es zu schweren Niederschlaegen gekommen, was einige LWB-Mitarbeiter davon
abgehalten hatte, in Bukora zu uebernachten.

Wo Gewalt mit einer ethnischen Komponente einhergeht, fuerchten alle
Menschen, die der Gruppe der Opfer angehoeren, weitere Angriffe, waehrend
die Angehoerigen der Volksgruppe der Taeter sofort zu Verdaechtigen werden.
Einige Einwohner Bukoras flohen, andere versteckten sich. Die Arbeit in der
Siedlung wurde eingestellt. Die zarten Hoffnungsschimmer auf eine
gemeinsame Zukunft in Bukora scheinen zu verglimmen. Aber sind sie schon
voellig erloschen?  In Bukora wurden Zivilisten von bewaffneten Angreifern
bedroht. Doch die Angst der Siedlungsbewohner ging weiter. Man fuerchtete,
der LWB wuerde, wie andere Hilfsorganisationen auch, Bukora aufgrund der
Gewalt verlassen. Die Antwort liess nicht lange auf sich warten. "Wir
wollen auch weiterhin in den Gemeinschaften bleiben", betonte Jaap Aantjes
nur wenige Tage nach dem Ueberfall. Der Erfolg in unserem Programm haengt
direkt damit zusammen, dass wir derzeit die einzige Organisation sind,
deren Stab direkte gemeinschaftsbezogene Arbeit leistet."

Vor allem musste der traumatisierten Bevoelkerung geholfen werden, wieder
zusammenzuleben. "Sie hatten Angst", erzaehlt Peter Munyeshili, Geistlicher
einer Pfingstkirche, der mit Pastor John zusammenarbeitet.

"Wir versuchten mit ihnen allen zusammen ueber den Vorfall zu sprechen. Wir
verkuendigten ihnen das Wort Gottes und versprachen zurueckzukommen."

Nach Pastor John ist die "Heilung der Herzen wesentlich fuer die fuer das
Auge sichtbare Wiederaufbauarbeit   und da spielt der LWB bereits eine
grosse Rolle". Er haelt Aantjes und dem LWB zugute, dass sie den
Zusammenhang von Sichtbarem und Unsichtbarem verstehen und bereit sind,
seelsorgerlich taetig zu sein, vor allem seit dem Angriff im Maerz.

Herzen zu erneuern sei jedoch ein viel langsamerer Prozess, fuegt er rasch
hinzu, als der Wiederaufbau eines vom Krieg zerstoerten Landes.

Die Ereignisse von 1994 engen heute seine seelsorgerliche Taetigkeit ein.

Es ist, als ob die ehemaligen Motive der Menschen weiterhin ihr Gewissen
gefangenhalten.

So sahen sich viele gezwungen, ihre Nachbarn zu toeten, um sich selbst oder
ihre Angehoerigen zu retten. Andere wiederum wussten, was vor sich ging,
leisteten jedoch keinen Widerstand oder konnten es nicht.

Extremistische Propaganda hatte die ganze Nation auf das schier undenkbar
Schreckliche vorbereitet, die Greueltaten nahmen von da ab ihren Lauf.
Ausserdem haben fast alle   von den Hauptschuldigen bis hin zu den
vollkommen Unschuldigen   seither in ueberfuellten Fluechtlingslagern
gelitten, entweder als im eigenen Land Vertriebene oder als Folge der
strengen Sicherheitsmassnahmen des neuen Regimes.

Andere hingegen mordeten oder profitierten von den Massakern und dem
Buergerkrieg nur, um Land und Eigentum zu gewinnen.

*Schuldgefuehle sind noch immer staerker als Reue

Schuldgefuehle sind immer noch staerker als Reue und Vergebung. Typische
Schuldbekenntnisse kommen zwar vor, doch relativ selten, wie Pastor John
berichtet. In einem Fluechtlingslager hackten einige junge Maenner Holz.
Einer von ihnen mit der Axt in der Hand gestand den anderen, dass er 1994
gezwungen worden sei, acht Menschen zu toeten. "Wird mir Gott je
vergeben?", fragte er seine Kameraden. Pastor John ging zu ihm und sagte:
"Ja, Gott vergibt uns. Dir wurde vergeben." Der junge Mann war tief bewegt.

Wie steht es aber zum Beispiel um die gefuerchtete Interahamwe Miliz? Hat
ihr jemand vergeben? "Ja", antwortet Pastor John, ohne zu zoegern. "Ich
weiss von zwei Menschen, die dies getan haben. Eine von der Miliz
verwundete Frau, sagte:  Ich vergebe ihnen, auch wenn sie es getan haben,
denn ich moechte als Christin sterben', erzaehlte sie mir."  Pastor John
und andere Kirchenfuehrer in der Region Kibungo um Bukora herum predigen
Liebe und Trost. Es gehoert zu Johns Arbeit fuer den LWB, monatliche
Gemeinschaftssitzungen abzuhalten. Die Teilnehmenden seien zuerst
zurueckhaltend gewesen, erzaehlt er, aber jetzt erwaermten sie sich immer
mehr fuer diese Idee. In einem Land, in dem nur wenig
Kompromissbereitschaft weder bei den an den Massakern von 1994 Beteiligten
noch bei den Hardlinern der gegenwaertigen, von einer Minoritaet gefuehrten
Regierung vorhanden ist, wissen sie, wie viele Herzen sich aendern muessen.
Sie bitten, dass auch an anderen problematischen Orten Gemeinschaftsforen
durchgefuehrt werden.

Pastor John macht sich kaum Illusionen darueber, was Ruanda braucht, und
hat trotzdem seinen Glauben. "Es gibt Herzen auf beiden Seiten, die
zuhoeren und lernen wollen. Das war so in Benaco (das riesige Lager von
1994 in Tansania) und ist auch hier so", sagt er. "Es braucht Menschen, die
mit dem Herzen sprechen. Es braucht Zeit, bis die Herzen sich aendern, aber
mit dem noetigen Engagement ist es moeglich. Mit Gott ist nichts
unmoeglich."

Diese an der Basis orientierte Arbeit fuer den Frieden findet nicht in
einem Leerraum statt. Sie geht Hand in Hand mit dem "Sozialprogramm" des
LWB, das mit den Ortskirchen durch Sportteams, Kirchenchoere,
Theatergruppen und die Betreuung von Beduerftigen einen Gemeinschaftsgeist
aufbauen will. Dazu kommen Wohnungs- und andere Infrastrukturprojekte sowie
Wirtschaftsprogramme zur Foerderung von Kleingewerbekooperativen vor Ort.

*Erste Ernte

Alle Programme sollen Grundbeduerfnisse decken, wobei sie auch Schranken
niederreissen, die gemischt ethnischen Dorfgemeinschaften im Wege stehen.
Alice Mukayirangu, eine LWB-Mitarbeiterin in Bukora, kann schon
Fortschritte feststellen. "Bukora war ganz ueberwachsen, und es gab nichts
zu essen, als die Leute kamen", sagt sie. "Jetzt koennen sie ihre Saat
ernten. Die Bewohner sind nicht mehr hungrig.

Naechstes Jahr werden sie keine Nothilfe mehr benoetigen."  Der Stab
befindet sich in einer Zwickmuehle: Zum einen steigen die Erwartungen und
Herausforderungen, zum anderen werden die finanziellen Mittel fuer solche
Programme immer knapper. Die LWB-Mitgliedskirchen geben immer weniger fuer
die Weltbundarbeit in Ruanda.

Alice wurde von den Angreifern im Maerz ins Visier genommen, aber sie und
andere LWB-Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen haben keine Angst. Die Armee
hat in diesem Gebiet verstaerkt Patrouillen aufgestellt, und der Ueberfall
wird untersucht. Sicherheit hat jedoch auch eine tiefergehende soziale
Grundlage. Mit dem Erfolg der Gemeinschaftsprogramme ist der LWB
ueberzeugt, dass die Sicherheit der Bewohner verstaerkt wird.

Nach Meinung von leitenden Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des LWB in
Kigali und in der Hauptgeschaeftsstelle in Genf ist fuer Sicherheit im
allgemeinen die Gemeinschaft verantwortlich Deshalb werden die
Stabsmitglieder, wenn immer moeglich, weiterhin in den Doerfern wohnen, in
denen sie arbeiten, und so zur Gewaehrleistung der Sicherheit beitragen.
Seit dem Ueberfall trifft der LWB taeglich Vorsichtsmassnahmen und haelt
engen Kontakt zu den Zivilbehoerden.

Sicherheit ist auch eine geistliche Angelegenheit. In einem Land, in dem
der Voelkermord die Kirche ebenso tief wie die Gesellschaft gespalten hat,
nimmt Pastor John eine streng moralische Haltung ein: "Ein Hirte darf seine
Herde nicht verraten", meint er. "Als Pastor bin ich zum Dienst gesalbt und
muss mich fuer den Frieden einsetzen. Die Grundlage fuer unsere Botschaft
der Sicherheit ist die Hoffnung. Unsere Verpflichtung fuer den Frieden geht
mit Taten einher." Seine Worte gelten auch dem verwundeten Leib Christi. In
die Praxis umgesetzt werden diese Worte Zeugnis fuer ein neues Ruanda und
auch eine neue Kirche in Ruanda sein.

(Anmerkung der Redaktion: Der Autor des Beitrags, Jonathan Frerichs, ist
Kommunikationsleiter der US-amerikanischen Hilfsorganisation Lutheran World
Relief.)

***
Lutherische Welt-Information (lwi)
Deutsche Redakteurin: Karin Achtelstetter
E-mail: ka@lutheranworld.org
http://www.lutheranworld.org/


Browse month . . . Browse month (sort by Source) . . . Advanced Search & Browse . . . WFN Home