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Agro-oekologisches LWB-Projekt in Haiti


From FRANK_IMHOFF.parti@ecunet.org (FRANK IMHOFF)
Date 28 Jul 1998 18:02:53

"Wir muessen unseren eigenen Weg finden"

Genf, 30. Juli 1998 (lwi) - Die Reise nach Thiotte geht durch Taeler, ueber
Berge und durch ausgetrocknete Flussbetten. Es ist eine wunderbare
Gebirgslandschaft; die Huegelketten gehen kaum merklich in den Horizont
ueber. Hier im Suedosten von Haiti fuehrt die Abteilung fuer Weltdienst des
Lutherischen Weltbundes (LWB) ein agro-oekologisches Projekt durch. Die
Strassen nach Thiotte sind in einem beaengstigend schlechten Zustand, doch
vergisst man ob der spektakulaeren Aussicht jegliche Gefahr, und die
Gedanken schweifen in die Welt von Mythen und Maerchen.

Nach Thiotte gelangt man durch einen kleinen Fichtenwald. Das Waeldchen ist
das einzige, was von einem staatlichen Aufforstungsprojekt der 60er Jahre
uebriggeblieben ist. Es ist in der Tat eine Raritaet: 95 Prozent des
Urwaldes, der zu Beginn dieses Jahrhunderts noch  98 Prozent des Landes
bedeckte, sind gefaellt und auf die voraussehbare Zukunft hin vernichtet
worden. Wenn die Baeume gefaellt sind, schwemmen die ersten Regenfaelle
aufgrund des tropischen Klimas und der bergigen Landschaft die duenne
Schicht Mutterboden gaenzlich weg. Kein Wunder also, wenn Haiti die
schlimmsten Faelle von Erosion in der ganzen Welt verzeichnet. Einige
Wissenschaftler sagen, dass die Natur zwischen 100.000 und 200.000 Jahren
brauchen wird, um den Schaden wiedergutzumachen.

Natalie Verly Raphael, eine junge haitianische Agronomin, ist die
Koordinatorin des LWB-Projekts in Thiotte. Eben malt sie ein grosses Schild
mit der Aufschrift: SCHWEINEZUCHTPROJEKT DES LUTHERISCHEN WELTBUNDES. Ein
Spender will das Projekt besuchen und hat um ein solches Schild gebeten,
damit er die an dem Projekt beteiligten Frauen mit samt den Zuchttieren vor
dem Schild photographieren kann, um die Bilder daheim vorzufuehren. Drei
Wochen im Monat wohnt Natalie in Thiotte. Wer auf dem Land lebt, muss eine
gehoerige Portion Erfindergeist aufbringen, das gilt auch fuer Natalie und
die an dem Projekt beteiligten Bauern. Natalie koordiniert  und begleitet
alle Bereiche des LWB-Projekts in Thiotte. Dazu gehoert auch die enge
Zusammenarbeit mit der Bauernorganisation, die den LWB um Einsatz in dieser
Region gebeten hat. Natalie muss den Bauern neue Techniken beibringen, ein
Anbauprojekt fuer Frauen in der Region begleiten, bei Streitigkeiten
zwischen Grundbesitzern und Bauern Rechtsberatung zur Verfuegung stellen
und viele andere Pflichten uebernehmen. Die Region ist aeusserst arm und
hatte unter dem unterdrueckerischen Regiment der Duvaliers - Papa Doc und
Baby Doc, 1957 bis 1986 -  und dem Militaerregime von 1991 bis 1994 schwer
zu leiden. In dem Projektgebiet leben rund 17.000 Menschen, die meisten von
ihnen in aeusserster Armut. "In so schwierigen Situationen faellt es nicht
leicht, sich bei der Arbeit zu beschraenken", sagt Natalie. "Aber es ist ja
nicht der LWB, der bei diesem Projekt die ganze Arbeit leisten soll,
sondern die Bauern selbst. Dieses Projekt wurde in Zusammenarbeit mit
FENATAPA, einer nationalen Bauernorganisation, und den Basisgruppen in
Thiotte entwickelt. Sie sollen die Arbeit tun. Dazu haben sie zwei Komitees
eingerichtet, eines in Thiotte und eines im Nachbardorf Savanne Zombie, die
die Arbeit vor Ort vorantreiben und koordinieren sollen. Der LWB steuert
sein Fachwissen in bezug auf agro-oekologische Landwirtschaftstechnik bei,
nimmt regelmaessig Evaluierungen vor und ist fuer die Ausbildung der
Dorfbevoelkerung sowie Bereitstellung von Mitteln verantwortlich", erklaert
Natalie. Ihre Arbeit wird durch die herrschenden Besitzverhaeltnisse
erschwert: In den meisten Faellen gehoert den Bauern in Thiotte das von
ihnen bebaute Land nicht. Sie pachten es und muessen dafuer bis zu 50
Prozent ihres Ertrags dem Grundbesitzer zurueckerstatten. Das Resultat ist
abgewirtschafteter Boden und minderwertige Produkte. Wenn der Bauer nicht
weiss, ob er sein Stueck Land im naechsten Jahr noch bebauen kann, wird er
zur Erhaltung des Bodens kaum viel Zeit oder Geld aufwenden. Somit
verschlechtert sich Jahr um Jahr die Qualitaet des Bodens, und die Bauern
nehmen fuer ihre Produkte immer weniger ein.

Wie laesst sich dieser Teufelskreis durchbrechen, und wie lassen sich neue
Anbaumethoden einfuehren? Natalie gibt zu, dass das nicht leicht ist. "Die
meisten von uns hier kaempfen ums taegliche Ueberleben. Jeden Tag versuchen
wir unter grosser Anstrengung, bis zum naechsten Tag genug zum Essen fuer
die Familie aufzutreiben. Die Armen fragen nicht, was naechstes Jahr oder
in zehn Jahren geschieht, sondern was naechste Woche oder morgen passiert.
Wenn wir die Armen auffordern, mit uns fuer die naechsten vier Jahre zu
planen, muessen wir uns bewusst sein, dass wir ihnen damit sehr viel
abverlangen. Aber sie haben es geschafft und wie. Und deshalb habe ich die
Hoffnung, dass wir in Thiotte tatsaechlich Aenderungen und positive
Entwicklungen herbeifuehren werden."

Es ist schwer, alte Gewohnheiten abzulegen, und Natalie erzaehlt, dass die
Bauern oft skeptisch sind, wenn man von den neuen Techniken spricht. Doch
ein gutes Beispiel wirkt Wunder: Sobald ein Bauer merkt, dass ein Nachbarn
dank einer neuen Methode eine bessere Ernte oder bessere Produkte
eingebracht hat, will er die neue Methode auch anwenden. Es ist sogar
passiert, dass die ortsansaessigen Ausbilder mitten in der Nacht geweckt
wurden, weil jemand eine neue Technik lernen wollte! Natalie versucht auch
moeglichst viele Jungbauern einzubeziehen, die neuen Methoden gegenueber
offener sind.

Natalie moechte Menschen, die jahrelang nur erlebt haben, dass sich ihre
Lebensbedingungen immer weiter verschlechtert haben, Hoffnung und neue
Initiativkraft einfloessen. "Wer hungert, plant nicht fuer die Zukunft.

Deshalb sieht man oft, wie die Bauern ihre Mangobaeume faellen und daraus
Holzkohle herstellen, um sie auf dem Markt zu verkaufen. Die Holzkohle
bringt ihnen etwa 18 bis 20 Dollar ein, aber der Mangobaum haette noch 40
Jahre Fruechte getragen, und bis ein neuer Baum Fruechte traegt, braucht es
zehn bis 15 Jahre." Die Abholzung in Haiti ist das Resultat solcher
Verzweiflungstaten -ein Baum nach dem anderen verwandelt sich Sack um Sack
in Holzkohle. So ist in Haiti der Urwald verschwunden, der einst einer
Vielfalt von Papageien und anderen tropischen Tieren ein Heim bot.

Natalie ist der Meinung, dass der schlimmste Fehler, den man bei einem
solchen Projekt begehen kann, darin besteht, allen zu sagen, was sie tun
sollen. Als die Planung des Projekts in Thiotte begann, hatten die Bauern,
LWB und FENATAPA ganz unterschiedliche Ideen im Blick auf die Ziele und
Methoden des Projekts.

"Die Bauern wollten einen grossen Lastwagen und noch vieles andere, was sie
zweifellos brauchten. Wir aber wollten ein prozessorientiertes
Hilfe-zur-Selbsthilfeprojekt, ohne viel in die Infrastruktur investieren zu
muessen. LWB und FENATAPA waren hingegen davon ueberzeugt, dass dieses
Projekt zu nichts kaeme, wenn sie grosse Lastwagen und Maschinen kaufen
wuerden. Aus fuenfzig Jahren Erfahrung in der Nothilfe-und
Entwicklungsarbeit in der ganzen Welt hatte der LWB gelernt, dass man genau
am anderen Ende beginnen muss, dass naemlich die Bauern ihren eigenen Weg
der Zusammenarbeit finden muessen, bevor sie ihre eigenen Investitionen
machen koennen. Auf der einen Seite des Tisches sassen also die Bauern mit
ihren Hunger leidenden Familien und mit jeder Regenzeit schwindenden
Aeckern. Wir haben miteinander diskutiert und argumentiert, bis wir uns auf
unsere Ziele und den Weg dahin einigen konnten. Es war ein langsamer, aber
absolut wichtiger Prozess, der ueber zwei Jahre in Anspruch nahm", erzaehlt
Natalie.

Jetzt wissen wir, wohin wir gehen", sagt sie voller Zuversicht. "Unser Volk
hat alles ueberstanden, was man sich nur vorstellen kann: von Diktatoren
bis zu Wirbelstuermen. Doch sind allzuoft Leute aus dem Ausland gekommen,
die alle Antworten bereit hatten, und dann zeigte es sich, dass sie falsch
waren. Jetzt muessen wir unsere eigenen Loesungen finden, und wir werden
sie notgedrungen auch finden."

Die Sonne geht unter in Thiotte, und eine leichte Brise vom Meer her bringt
willkommene Kuehlung. In der Daemmerung laesst sich vor und hinter den
Bergen das Karibische Meer erkennen. Die vielen Froesche stimmen ihr
Schlaflied an. Die Nacht bricht ganz ploetzlich ein; da Elektrizitaet ein
seltener Luxus ist, ist es sehr dunkel. Doch scheinen im haitianischen
Himmel mehr Sterne als an irgendeinem anderen Himmel.

Der Mond taucht die Huegel in blaeuliches Licht: "Deye mon, gen mon", sagt
ein haitianisches Sprichwort: "Hinter dem Berg ist ein anderer Berg." Damit
ist die Wirklichkeit in Haiti treffend beschrieben. "Aber mittlerweile",
sagt Natalie, "habe ich gelernt, dass die Berge zum Besteigen da sind."

(Anmerkung der Redaktion: Die Autorin des Beitrages, Erika Brundin Jonsson,
arbeitet fuer die nationale Koalition haitianischer Rechte.)

***
Lutherische Welt-Information (lwi)
Deutsche Redakteurin: Karin Achtelstetter
E-mail: ka@lutheranworld.org
http://www.lutheranworld.org/


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