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Geschockt und Verstort


From Sheila MESA <smm@wcc-coe.org>
Date 20 Apr 1999 02:41:07

Okumenischer Rat der Kirchen
ORK Feature
Zur Veroffentlichung frei
15. April 1999

GESCHOCKT UND VERSTORT
von Nils Carstensen, Kukes, Albanien

Enver Sllamniku lehnt an dem kleinen roten Traktor, mit dem er gerade aus
dem Kosovo nach Albanien gekommen ist. "Serbische Soldaten... bumm,
bumm, bumm," sagt er und ahmt automatische Schnellfeuergewehre
nach. Sllamniku ist Anfang 50 und tragt einen Bart. Seine Tochter lacht
uber seine Gesten, hort dann unvermittelt auf, blickt um sich und setzt
sich neben den kleinen Holzanhanger, der ihre gesamte Habe enthalt:
einige Matratzen und Decken, Kleiderbundel, ein paar schabige Koffer
und Sporttaschen. Obenauf schlafen ihre Grossmutter und ihr
funfjahriger Bruder.

Zusammen mit 1500 anderen sind sie in der Nacht in Albanien
angekommen und haben am Rande der Gebirgsstadt Kukes im Nordosten
des Landes angehalten. Auf einem Feld am Fuss der schneebedeckten
Berge stehen inmitten von Abfallen Hunderte von Treckern, Anhangern
und Kleinwagen. Die Menschen sitzen in kleinen Gruppen beieinander
oder kauern auf ihrer armseligen Habe. Es wird nicht viel gesprochen,
und die meisten scheinen den Blick nach innen gerichtet zu haben.
Journalisten, Fotografen und Fernsehteams halten nach Personen
Ausschau, die sie interviewen konnen. Einige hundert Meter links von
dem Feld stehen die Uberreste einer verfallenen Industrieanlage, die die
Szene noch trostloser erscheinen lasst.

Die Gruppe von Fluchtlinge kommt aus Vragoli, einem kleinen Dorf in der
Nahe von Pristina. Avdyl Orllati war dort Lehrer. "Die serbischen
Soldaten sind gestern morgen gekommen. Sie haben uns bedroht und
haben in die Luft geschossen. Dann haben sie uns befohlen, das Dorf
sofort zu verlassen", berichtet er. "Zuerst haben sie gesagt, wir sollten
zu Fuss gehen. Dann haben sie ihre Meinung geandert und uns gesagt,
wir sollten unsere Traktoren und Autos nehmen. Wir hatten eine halbe
Stunde Zeit. "Geht nach Albanien,' haben sie uns gesagt, "da gehort ihr
hin. Der Kosovo ist fur die Serben. Geht zur NATO, die kummert sich um
euch.' Bevor wir abfuhren, haben sie uns unsere Ausweise und
Nummernschilder weggenommen. Einigen haben sie auch das Geld
weggenommen, aber nicht allen."

Auf der 14stundigen Fahrt bis zur Grenze hat Orllati ein zerstortes Dorf
nach dem anderen gesehen. Im Gegensatz zu einigen der Fluchtlinge, die
vor ein paar Tagen hier angekommen sind, ist niemand aus dieser
Gruppe geschlagen oder verletzt worden. Auch hat niemand mitansehen
mussen, dass Verwandte erschossen wurden, bevor sie aus dem
Kosovo herauskamen. Orllati ist mit seiner Frau, seinen beiden Sohnen
und drei weiteren Verwandten gekommen. Fur's erste weiss er nicht,
wie es weitergeht.

Die enge, gewundene Bergstrasse voller Schlaglocher, die nach Kukes
fuhrt, hat noch nie einen solchen Verkehr erlebt. Lastwagen mit
Hilfsgutern kriechen von Tirana herauf - eine Fahrt von gut acht Stunden.
In die umgekehrte Richtung bewegt sich eine nicht abreissende Kolonne
von Treckern, Autos aus dem Kosovo ohne Nummernschilder, von
Bussen und albanischen Armeelastwagen. Sie alle bringen Fluchtlinge
nach Tirana und in andere Teile Mittel- und Sudalbaniens. 

"Hier sind jetzt nur noch rund 70.000 Fluchtlinge", erklart Jacques
Franquin vom Buro des UN-Hochkommissariats fur Fluchtlinge (UNHCR)
in Kukes. Die meisten der 310.000 Fluchtlinge, die in den vergangenen
Wochen nach Albanien gekommen sind, sind uber Kukes eingereist.
Franquin weist darauf hin, dass sich die allgemeine Lage im Vergleich zu
den Bedingungen von noch vor ein paar Tagen, als das Lager
hoffnungslos uberfullt war, verbessert hat. "Die albanischen Behorden
habe ihr Bestes getan, um die Fluchtlinge hier herauszuholen," fugt er
hinzu. Die Mehrzahl der 70.000 Fluchtlinge in Kukes sind entweder
Neuankommlinge oder solche, die fur den Augenblick lieber nahe an der
Grenze bleiben wollen. Die anderen sind entweder in albanischen
Gastfamilien oder in Transitlagern untergebracht. Einige sind in die
Fluchtlingslager gegangen, die jetzt uberall in den verhaltnismassig
wohlhabenderen Regionen Albaniens nahe der Mittelmeerkuste aus dem
Boden schiessen.

In der vergangenen Woche hat "Kirchen helfen gemeinsam" (ACT) Zelte
und Decken fur 900 Familien nach Kukes eingeflogen. Die Arbeiten fur
ein erstes Lager fur 2000 Fluchtlinge fangen morgen an. Uber 60 Tonnen
Lebensmittel sind in der ersten Phase der Nothilfe verteilt worden.
Weitere 20 Tonnen Lebensmittel und Hygieneartikel werden in den
kommenden Tagen verteilt. ACT plant auch, Tausende von Fluchtlingen
und Gastfamilien in ganz Albanien zu unterstutzen. Der albanische
Partner von ACT - Diaconia Agapes, der diakonische Flugel der
Albanischen Orthodoxen Kirche - beteiligt sich aktiv an dieser Arbeit und
stellt Plane fur die nachsten Wochen und Monate auf. 

Wie die anderen humanitaren Organisationen, die den Fluchtlingen aus
dem Kosovo zu Hilfe eilen, weiss auch ACT nicht, wie es jetzt
weitergeht. Stellen Familien wie die von Orllati und Sllamniku das Ende
des Exodus dar, der Ende Marz begann? Oder stehen sie nur am Anfang
einer weiteren massiven Fluchtlingswelle? Und wieviel mehr Fluchtlinge
kann Albanien aufnehmen - das auch ohne die Fluchtlinge Jahrzehnte
brauchen wird, um sich von dem fruheren Regime zu erholen?

Die Stimmung unter humanitaren Mitarbeitern und Journalisten in Kukes ist
nicht weniger duster als die der neuangekommenen Fluchtlinge. Die
Erinnerungen an die "Holle auf Erden", die vergangene Woche an der
Grenze herrschte, sind noch zu frisch. Immer wieder sieht man, wie die
Fluchtlinge ihre Fauste gegen Slobodan Milosevic erheben oder ihn
verfluchen, wenn sie um Lebensmittel anstehen oder in langen
Schlangen vor der offentlichen Telefonzelle warten in der Hoffnung,
Kontakt mit ihren verlorenen Verwandten aufzunehmen. Auf dem Feld
bei Kukes ist Sllamnikus Tochter nicht die einzige, die geschockt und
verstort ist. Die Menschen in Kukes sind gezeichnet von der Tragodie,
die sich abspielt.

Weitere Informationen erhalten Sie von Nils Carstensen uber
<act@act-intl.org>. Die Internetadresse von ACT ist:
<http://www.act-intl.org>.

Das beigefugte Foto von Peter Williams sowie eine Auswahl von Fotos
aus Albanien sind bei Photo Oikoumene erhaltlich. Falls Sie einen
Internetanschluss haben, konnen Sie Fotos direkt im elektronischen
Format ((300 dpi) uber die entsprechende Website
<http://www.wcc-coe.org/photo> beziehen. Gedruckte Reproduktionen
konnen per E-Mail uber <photo@info.wcc-coe.org> bestellt werden.

[Der Verfasser dieses Beitrags, Nils Carstensen, ist der
Kommunikationsreferent von ACT. ACT ist ein weltweites Netz von
Kirchen und kirchlichen Einrichtungen zur Linderung menschlicher Not
durch koordinierte Not- und Katastrophenhilfe. Das Koordinierungsburo
von ACT befindet sich am Sitz des Okumenischen Rates der Kirchen
(ORK) und des Lutherischen Weltbundes (LWB) in Genf/Schweiz.)] 

**********
Der Okumenische Rat der Kirchen ist eine Gemeinschaft von inzwischen
338 Kirchen in uber 100 Landern auf allen Kontinenten und aus praktisch
allen christlichen Traditionen. Die romisch-katholische Kirche ist keine
Mitgliedskirche, arbeitet aber mit dem ORK zusammen. Oberstes
Leitungsorgan ist die Vollversammlung, die ungefahr alle sieben Jahre
zusammentritt. Der ORK wurde 1948 in Amsterdam (Niederlande) offiziell
gegrundet. An der Spitze der Mitarbeiterschaft steht Generalsekretar
Konrad Raiser von der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Okumenischer Rat der Kirchen
Buro der Medienbeauftragten 
Tel:  (41.22) 791.61.53 / 791.64.21
Fax:  (41.22) 798.13.46
E-Mail: ka@wcc-coe.org
http://www.wcc-coe.org

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