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Zur Bedeutung der Gemeinsamen Erklarung zur Rechtfertigungslehre


From FRANK_IMHOFF.parti@ecunet.org (FRANK IMHOFF)
Date 25 Oct 1999 14:25:26

Was ist Rechtfertigung?

Genf, 25. Oktober 1999 (lwi) - Ganz allgemein und vereinfacht gesagt,
geht es bei der Rechtfertigungslehre um die religiose und ethische
Fragestellung, wie wir als Menschen unser Verhaltnis zu Gott, unserem
Schopfer, zu anderen und zu uns selbst in der richtigen Weise bestimmen.

Der religiose Aspekt der Rechtfertigungslehre ist historisch begrundet.
Sie ist sowohl im Alten als auch im Neuen Testament verwurzelt.
Gerechtfertigt zu sein, ist im judischen Glauben von grosster
Wichtigkeit und hat direkt mit der Einhaltung des Gesetzes zu tun, das
den Willen Gottes zum Ausdruck bringt. Im Neuen Testament entfaltet
Paulus vor allem im Romer- und im Galaterbrief das Verstandnis der
Rechtfertigung als theologische Lehre. Paulus ist grundsatzlich der
Meinung, dass menschliche Gerechtigkeit nicht durch die Einhaltung der
Gebote Gottes erlangt werden kann. Fur Paulus heisst wahre Gerechtigkeit
die Aneignung von Gottes eigener Gerechtigkeit, also seiner Liebe und
seiner Gnade, die sich uns in Christus offenbaren. Dies findet im
Glauben und durch den Glauben statt. Was sich in der Lehre des Paulus am
deutlichsten von der judischen Lehre unterscheidet, ist, dass er Jesus
Christus ins Zentrum stellt als denjenigen, durch den Gott uns im neuen
Bund seine Gnade naher gebracht hat. Im neuen Bund ist Christus unsere
Gerechtigkeit. Wir sind in Christus als gerecht erklart, selbst wenn wir
nach den Geboten des Gesetzes nicht gerecht sind.

Bei Paulus und im ubrigen Neuen Testament wird offensichtlich, dass das
"neue Leben", das Leben im Glauben, ein Leben tatiger Liebe und im
Dienst anderer ist. Dabei ist oft die Rede von "guten Werken" - ein
Begriff, der in den Auseinandersetzungen der Reformation im Mittelpunkt
stand. Fur Paulus offenbarte sich Gottes Gerechtigkeit in Christus "ohne
Werke". Fur ihn sind unsere guten Werke nicht der Grund fur Gottes
Gerechtigkeit, sondern es verhalt sich umgekehrt. Gottes Gerechtigkeit,
seine Liebe, ist die Hauptquelle unserer Liebe und daher die Hauptquelle
unserer guten Werke. Das ist auch der Kern der Gemeinsamen Erklarung.

Im Spatmittelalter war die kirchliche Verkundigung der biblischen
Rechtfertigungslehre nicht mehr so klar. Hinzu kam, dass die biblischen
Schriften nur wenigen zuganglich waren. Das fuhrte zu einer Reihe von
Gebrauchen im Leben der Kirche, die der Botschaft, dass wir durch Gottes
Gnade im Glauben gerechtfertigt sind, entgegenstanden.  So lag die
Betonung auf guten, vor allem von der Kirche vorgeschriebenen Werken.

Zur Reformationszeit riefen viele, darunter Martin Luther, dazu auf, die
Praktiken zu reformieren. Auch die Katholiken stimmen heute zu, dass
diese Reformen notig waren. Die Confessio Augustana wurde 1530 von den
Lutheranern vorgelegt als ein Versuch, die Spaltung in der westlichen
Kirche zu vermeiden. Doch dieser Versuch schlug fehl.

Im Verlauf der Reformation und der sogenannten Gegenreformation
verharteten sich die Positionen. In den Hauptpunkten blieben die
Positionen der Lutheraner und der Katholiken unversohnt. Wichtige
Differenzen herrschten sowohl im Blick auf den Glauben als auch auf die
Praktiken der Kirche.

Wahrend der fortgesetzten Kontroversen wurden gegenseitige
Lehrverurteilungen ausgesprochen, auf lutherischer Seite in der
"Konkordienformel" und auf katholischer Seite im Okumenismusdekret, das
vom Konzil von Trient angenommen wurde. Die lutherischen Kirchen und die
romisch-katholische Kirche sind seither hinsichtlich der wichtigen Frage
des Heils durch Gnade und der Rolle der guten Werke gespalten.

Die Gemeinsame Erklarung will hinter die Kontroversen der
Reformationszeit zuruckgehen und gemeinsam auf die biblische
Rechtfertigungsbotschaft horen. So konnte ein Konsens in
"Grundwahrheiten" der Rechtfertigung erzielt werden, und zwar in einem
Prozess, in dem die biblische Botschaft fur sich allein zur Sprache kam
und gemeinsam als Ausdruck heutiger okumenischer Ubereinkunft formuliert
wurde. Auf der Basis dieser Ubereinkunft konnte festgestellt werden,
dass die gegenseitigen Lehrverurteilungen der Reformationszeit die
Rechtfertigungslehre, wie sie in der Gemeinsamen Erklarung dargestellt
wird, nicht treffen. Die Gemeinsame Erklarung legt den Akzent deutlich
auf das, was uns in Bezug auf den Glauben in unsere Rechtfertigung in
Christus vereint. Wir sagen nicht, dass ein Konsens in allem, was mit
diesem Glauben zu tun hat, besteht. Es gibt sicher auch kein
Einverstandnis uber alle Konsequenzen, die sich aus diesem Glauben
ergeben.

Viele werden sich fragen, wie sich die Gemeinsame Erklarung auf die
okumenischen Beziehungen zwischen den lutherischen Kirchen und der
romisch-katholischen Kirche auswirken wird. Es werden sich keine
direkten institutionellen Veranderungen ergeben.  Was zum Beispiel die
Moglichkeit eines gemeinsamen Abendmahls betrifft, so sind die
lutherischen Kirchen grosstenteils bereit, Katholiken am Abendmahlstisch
aufzunehmen. Auf katholischer Seite ist die Lage komplexer. Die Frage
des gemeinsamen Abendmahls ist eng mit der gegenseitigen Anerkennung der
Amter verbunden.

Man sollte aber auf dieser Grundlage die okumenische Bedeutung der
Gemeinsamen Erklarung nicht unterschatzen. So sind Ubereinstimmungen in
Grundwahrheiten der Rechtfertigung an sich schon eine wichtige Basis fur
Fortschritte bei verbleibenden kontroversen Fragen wie dem geistlichen
Amt. Daruber hinaus stellt die Gemeinsame Erklarung klar, dass die zwei
Partnerkirchen aus dem gleichen Glaubensschatz schopfen, und das sollte
Katholiken und Lutheraner auf der ganzen Welt anregen, auf Gemeindeebene
engere Kontakte und verstarkte Zusammenarbeit anzustreben.

Die Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben ist ein Aufruf an alle
in Christus Getauften, uber alle Schranken zwischen Frauen und Mannern,
zwischen Alt und Jung und zwischen soziookonomischen Gruppen hinweg
Gemeinschaft aufzubauen. Weil wir von Gott und nicht aus unserer eigenen
Kraft gerechtfertigt sind, sollten wir uns alle gegenseitig akzeptieren,
so wie uns Gott akzeptiert. Die Rechtfertigungsbotschaft ruft die
Kirchen der ganzen Welt auf, ihre Haltung gegenuber anderen Kirchen
kritisch zu prufen. Sind sie wirklich in der Lage, die Anwesenheit
Christi selbst unter Christen anderer Traditionen zu erkennen? Bemuhen
sie sich aufrichtig und wahrhaftig, Wege der Offenheit und der
Zusammenarbeit zu finden? Wenn dies allzu idealistisch klingt, mussen
wir uns daran erinnern, dass der christliche Glaube diesen
Herausforderungen nicht aus dem Weg gehen darf, denn sie ergeben sich
aus seinem Kern, dem Evangelium.

Die Botschaft von der Rechtfertigung durch den Glauben, das heisst
Rechtfertigung durch Gott, ist eine Erlauterung der zentralen Bedeutung
des Evangeliums, so wie es Christus gepredigt und praktiziert hat.
Unsere Aufgabe ist es, seine Bedeutung in sich immer verandernden
Umstanden zu interpretieren, im Gehorsam gegen Christus, der uns
gerechtfertigt hat und uns Teil von Gottes Gnadenherrschaft hat werden
lassen.

(Dieser Artikel wurde von Sven Oppegaard verfasst, Assistierender
Generalsekretar des LWB fur okumenische Angelegenheiten.)

Der Lutherische Weltbund (LWB) ist eine Gemeinschaft lutherischer
Kirchen weltweit. 1947 in Lund (Schweden) gegrundet, zahlt er inzwischen
128 Mitgliedskirchen, denen rund 58 der 61,5 Millionen Lutheraner und
Lutheranerinnen in 70 Landern angehoren. Das LWB-Sekretariat befindet
sich in Genf (Schweiz). Das ermoglicht eine enge Zusammenarbeit mit dem
Okumenischen Rat der Kirchen (ORK) und anderen weltweiten christlichen
Organisationen. Der LWB handelt als Organ seiner Mitgliedskirchen in
Bereichen gemeinsamen Interesses, z. B. okumenische Beziehungen,
Theologie, humanitare Hilfe, Menschenrechte, Kommunikation und
verschiedene Aspekte von Missions- und Entwicklungsarbeit.

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