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Kommentar zum Reformationssonntag 1999


From "Christian B. Schäffler" <APD_Info_Schweiz@compuserve.com>
Date 29 Oct 1999 23:33:58

Oktober 30, 1999
Adventistischer Pressedienst (APD)
Christian B. Schäffler, Chefredakteur
Fax +41-61-261 61 18
APD@stanet.ch
http://www.stanet.ch/APD
CH-4003 Basel, Schweiz

Kommentar zum Reformationssonntag 1999:
"Zum 31. Oktober 1999"

von Ingo U. Dalferth

Am 31. Oktober jeden Jahres erinnern die lutherischen Kirchen an 
den Beginn der Reformation der westlichen Kirche, die mit den 95 
Thesen Luthers gegen die theologisch inakzeptable Ablasspraxis 
seiner Zeit ihren öffentlichkeitswirksamen Anfang nahm. Am 31. 
Oktober dieses Jahres unterzeichnen Vertreter des Lutherischen 
Weltbundes und der römisch-katholischen Kirche die heftig 
umstrittene Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre sowie 
die Gemeinsame Offizielle Feststellung, in der die Verurteilungen 
der lutherischen Rechtfertigungslehre durch das Tridentinum und 
die (kaum auffindbaren) lutherischen Verurteilungen der Lehre der 
katholischen Kirche auf einer theologischen Basis 
zurückgenommen werden, die unbefriedigender kaum sein könnte. 

Nicht nur bleibt sie an den entscheidenden Punkten vage, in ihrer 
Problemwahrnehmung rückwärtsgerichtet und methodisch an der 
Überwindung traditioneller Leh-gegensätze durch gemeinsame 
Lehrformulierungen orientiert, anstatt die Differenz der 
theologischen Denkhorizonte beider Traditionen anzuerkennen und 
gemeinsam die Sache der Rechtfertigung in ihrer Relevanz für die 
gegenwärtige Kirche und Welt aus ihren jeweiligen Perspektiven zu 
verdeutlichen, sondern sie belässt vor allem eben damit fast alles 
beim alten. 

Die traurig stimmende Pointe dieses Vorgangs wird deutlich, wenn 
man sich die gleichzeitigen Äusserungen des Vatikan zur 
Ablassfrage vor Augen hält: Die Verkündigungsbulle des Papstes 
zum grossen Jubiläum des Jahres 2000 "Incarnationis mysterium" 
vom 29. November 1998 und das Handbuch der Ablässe vom 17. 
September 1999. Beide Texte lassen auch nicht einen Hauch 
davon erkennen, dass die römisch-katholische Lehre und Praxis 
von einem Rechtfertigungsverständnis geprägt wäre, das dem der 
lutherischen Kirchen nicht widerspräche. Dass der Lutherische 
Weltbund angesichts dieser Dokumente an einer Unterzeichnung 
festhält, ist nicht nur nicht verständlich, sondern ein Ärgernis. Er 
demonstriert damit öffentlich, wie er die Bedeutung dieser 
ökumenischen Konsensdokumente einschätzt: Sie haben für die 
Praxis der Kirchen keine Bedeutung. Auf katholischer Seite werden 
sie schon jetzt ignoriert, von den lutherischen Kirchen werden sie 
ignoriert werden, weil sie ein Unternehmen des Lutherischen 
Weltbundes und nicht der lutherischen Kirchen sind.

Es ist an der Zeit, die Folgen einer Lehrökumene für die 
evangelischen Kirchen zu diskutieren, die sie offenkundig 
theologisch orientierungslos macht. Auf der einen Seite scheint auf 
dem Weg über Lehrvereinbarungen kaum etwas anderes erreicht 
zu werden als ein Abbau des eigenen Lehrprofils. Auf der anderen 
Seite wird mit der offenbar akzeptierten Folgenlosigkeit so erzielter 
Vereinbarung für das Leben der Kirchen belegt, wie bedeutungslos 
Theologie und theologische Lehre für die Kirchen inzwi-schen 
geworden sind. Als ökumenische Herausforderung scheint nur 
noch die Überwindung institutioneller Differenzen zwischen 
etablierten Kirchentümern und ihrer Religionspraxis gesehen zu 
werden, und nicht von ungefähr wird die ökumenische Agenda im 
Übermass von Fragen des kirchlichen Amtes und Bischofsamts 
dominiert. 

Gehen die evangelischen Kirchen auf diesem Weg weiter, verlieren 
sie mit ihrem konfessionellen Lehrprofil ihr raison d'être 
[Daseinsberechtigung] als eigenständige Kirchen und 
verharmlosen sich dazu, es früher oder später für einen 
ökumenischen Erfolg zu halten, den Status einer ordensähnlichen 
Sonderrichtung in der römisch-katholischen Kirche erreicht zu 
haben. Man müsste das nicht bedauern, wenn das, für das die 
evangelischen Kirchen einmal standen: ein öffentliches christliches 
Leben in der Freiheit des Glaubens aus der befreienden Wahrheit 
der Liebe Gottes, zum Allgemeingut der Kirchen geworden wäre. 
Aber davon kann keine Rede sein. Und deshalb ist der 31. Oktober 
1999 kein Freudentag.

Die Bemühung um Gestaltung des gemeinsamen Lebens aus dem 
Glauben ist ökumenisch unerlässlich. Christen leben nicht allein, 
sondern gemeinsam in Kirchen, und Kirchen existieren nicht 
jenseits der Welt, sondern in der Geschichte. Die aber stellt die 
evangelischen Kirchen heute vor andere ökumenische 
Herausforderungen als die Suche nach vagen Lehrkonsensen ohne 
Praxisfolgen und die Bemühung um eine "Versöhnung der Ämter" 
durch Wiedereinführung des Bischofsamtes in historischer 
Sukzession. Das sind Versuche europäischer Traditionskirchen, die 
im Begriff sind, ihre Basis in der Bevölkerung zu verlieren, und im 
Prozess der Neubestimmung ihrer Beziehungen zu Staat und 
Gesellschaft ihr verunsichertes Selbstverständnis im Rückgriff auf 
traditionelle ekklesiologische Denkmuster und Organisationsformen 
zu stabilisieren suchen. Doch damit werden sekundäre Fragen zu 
Hauptfragen gemacht, aber so wird man auf die ökumenischen 
Herausforderungen des kommenden Jahrhunderts nicht reagieren 
können. 

Längst hat sich zahlenmässig das Schwergewicht der katholischen 
Kirche aus Frankreich, Italien und Deutschland nach Brasilien, 
Mexiko und den Philippinen verlagert. Längst sind nicht mehr 
Deutschland oder England, sondern die USA und Nigeria die 
Länder mit den meisten protestantischen Christen. Längst sind die 
lutherischen und calvinistischen Kirchen zusammen weltweit eine 
Minderheit gegenüber den Methodisten, Baptisten und 
Pfingstkirchen. Nicht die erodierenden Traditionskirchen Europas, 
sondern die dynamisch wachsenden asiatischen, amerikanischen 
und afrikanischen Kirchen mit ihren ganz anderen Problemen 
werden die ökumenische Agenda des kommenden Jahrhunderts 
definieren. Sie stellen die eigentlichen ökumenischen 
Herausforderungen der Zukunft dar und diese werden sich nicht 
mit einer vergangenheitsorientierten Episkopalekklesiologie 
bewältigen lassen. 

Wollen die evangelischen Kirchen zu ihrer Bewältigung einen 
Beitrag leisten, müssen sie auf die Wahrung, nicht den Abbau 
ihres theologischen Profils achten. Denn - und daran erinnert das 
Gedenken der Reformation am 31. Oktober - die Eigendynamik 
kirchlicher Religionspraxis hat in jeder Organisationsform die 
Tendenz, die befreiende Wahrheit des Evangeliums zu verdunkeln 
und zu verstellen. Deshalb muss jede Gestaltung von Kirche von 
dieser her semper reformanda [stetige Erneuerung] bleiben. Und 
das kann sie nur, wenn das Evangelium nicht doktrinal verdunkelt 
und ekklesiologisch funktionalisiert wird, sondern alles daran 
gesetzt wird, es klar und unmissverständlich als die befreiende 
Rechtfertigung des Sünders allein durch Gott sola gratia, solo 
verbo, sola fide [allein aus Gnade, allein das Wort, allein aus 
Glauben] zur Sprache zu bringen. 

[Ingolf U. Dalferth ist Professor für Systematische Theologie, 
Symbolik und Religionsphilosophie am Institut für Hermeneutik 
und Religionsphilosophie an der Theologischen Fakultät der 
Universität Zürich]


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