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Zyklon ueber Indien forderte wahrscheinlich 20.000 bis 25.000 Tote


From FRANK.IMHOFF@ecunet.org
Date 18 Apr 2000 15:40:08

Erinnerungen eines Helfers

Bissamcuttack, Orissa (Indien)/Genf, 18. April 2000 (lwi) - Wie ein
Widerhall der juengsten Vergangenheit stehen die Ueberlebenden immer
noch unter dem Eindruck des schweren Zyklons, der am 29. Oktober 1999
ueber die noerdliche Kueste des indischen Bundesstaats Orissa
hereinbrach. Folgender Beitrag basiert auf Gedanken und Erfahrungen von
Dr. John Oommen, Leiter des Gemeindegesundheitszentrums des Christian
Hospital Bissamcuttack (CHB), Rayagada Distrikt, Orissa.

"48 Stunden lang wuetete der Sturm, und als am 31. der Wind nachliess,
waren die Kuestendistrikte des Bundesstaates Orissa regelrecht
niedergewalzt", erinnert sich Oommen, der in einem dreikoepfigen Team
vom Krankenhaus entsandt worden war, um sich an der medizinischen
Nothilfe zu beteiligen. Zehn Tage lang leistete das Team seinen, so
Oommen, "bescheidenen" Beitrag in Zusammenarbeit mit dem Lutherischen
Weltdienst (LWD) - Indien. Der LWD Indien wurde 1974 eingerichtet und
ist eines der weltweit 22 Landesprogramme, die von der Abteilung fuer
Weltdienst (AWD) des Lutherischen Weltbundes (LWB) durchgefuehrt werden.

"Es ist viel ueber das Ausmass der Schaeden geschrieben worden.
Schaetzungen hinsichtlich der Opfer, die der Sturm forderte, bewegen
sich von laecherlich niedrigen bis zu viel zu hoch angesetzten Zahlen.
Ich wuerde sagen, dass etwa 20.000 bis 25.000 Menschen ums Leben
gekommen sein duerften. Aber ganz sicher wird sich das nie sagen lassen,
da niemand weiss, wieviele es vor dem Wirbelsturm waren. Viele
ArbeiterInnen aus Andhra und MigrantInnen aus Bengal sind nirgendwo
registriert gewesen, von ihnen bleibt nach der Katastrophe wirklich
keine Spur", so Oommens Bilanz.

Laut Oommen kann der entstandene Schaden vier Kategorien zugeordnet
werden: zum einen entstand Schaden im Bereich Umwelt, die Baeume wurden
vernichtet und die Felder sind durch das uebergetretene Meerwasser
salzig; zum anderen hat die Infrastruktur Schaden erlitten, nur Familien
die festere Haeuser hatten, haben noch ein Dach ueber dem Kopf. In den
Gemeinden wurden Strassen und Schulen zerstoert; weiterhin ist ein
wirtschaftlicher Einbruch zu verzeichnen, da Tausende Familien alles
verloren haben. Dieses Gebiet galt als das am weitesten entwickelte des
Bundesstaates. Schliesslich haben unzaehlige Menschen ihr Leben
verloren, auch zahllose Tiere sind umgekommen.

Ueber die MitarbeiterInnen des LWD - Indien, die selbst Opfer der
Naturkatastrophe wurden, berichtete Oommen: "Sie waren zur Stelle, an
allen moeglichen Orten, und haben still und unauffaellig etwas
geleistet." Aus allen anderen Projektgebieten wurden MitarbeiterInnen in
Orissa eingesetzt. Zusaetzlich beteiligten sich Freiwillige aus
verschiedenen Kirchen in Orissa, Bihar, Assam und Bengalen. Oommen
betonte, dass vor der Katastrophe die Einheit Notfall und
Katastrophenhilfe des Programms bereits im Bereich
Katastrophenmanagement, Trinkwasserprojekte und Brunnenbau aktiv war.

Das Team des Christian Hospital Bissamcuttack wurde zuerst in Naugaon,
Bezirk Jagatsingpur, eingesetzt und arbeitete dort zusammen mit dem
lokalen LWD Team im ambulanten medizinischen Dienst in weit verstreuten
Doerfern, bei denen eine Versorgung durch andere Gruppen oder
oeffentliche Stellen unwahrscheinlich war. Im Verlauf von vier Tagen
versorgten sie 11 Doerfer, behandelten 527 Patienten, von denen 94 an
der Ruhr erkrankt waren. "In dieser Gegend waren weniger Menschen ums
Leben gekommen, aber alle Haeuser waren zerstoert und alle Baeume
vernichtet", so Oommen, der anmerkte, dass sein gesamtes Team an
Durchfall erkrankte.

In Ersama, einem entlegenen Dorf, wo das Team Notfallversorgung
leistete, erlebte Oommen einen Beamten, der als Sonderbeauftragter fuer
Katastrophenhilfe beispielhafte Arbeit leistete; Oommen bedauerte, dass
die Presse in ihren der staatlichen Seite gegenueber sehr kritischen
Berichten Positives, wie die Leistungen solcher Menschen, nicht
beruecksichtigte.

Als naechstes arbeitete das Team in Ambiki, einem ebenfalls weit
entfernten Dorf, das nur per Boot zugaenglich war, da alle
Zufahrtsstrassen weggespuelt worden waren. Auf der einstuendigen Fahrt
waren Leichen und Tierkadaver zu sehen, die sich oft im am Flussufer
wachsenden Grass verfangen hatten. Der Zyklon hatte auch in diesem
Gebiet zahlreiche Strohuetten zerstoert, teilweise lagen in ihnen noch
Leichen.

Das medizinische Team wuerdigte die Leistungen einer oertlichen
nichtstaatlichen Organisation (NGO), der International Society for
Indecency Prevention. Frauen, die Mitglieder dieser Organisation waren,
hatten grosse Muehen auf sich genommen, um das Team zu unterstuetzen.
Die Frauen schuetteten Chlorkalk in Brunnen, verbrannten Leichen,
hielten den Bereich sauber und boten kostenlose Mahlzeiten an, so dass
taeglich ca. 2 000 Menschen mittags versorgt waren. Oommen fuegte hinzu:
"Letzteres war nicht leicht zu bewerkstelligen und ein wichtiger
Beitrag, sie haben viel Arbeit und Muehe investiert. Wir sind ihnen
zutiefst dankbar, denn auch fuer uns war die Mahlzeit aus Reis und dal
(Huelsenfrucht) die einzige Nahrung des Tages, zudem waren sie aeusserst
freundlich und hilfsbereit uns gegenueber. Darueber hinaus haben sie
jeden Tag ein Krankenzentrum eingerichtet und Medikamente an Kranke und
Beduerftige verteilt."

Die erste Patientin des CHB-Teams war ein 12jaehriges Maedchen, das an
Durchfall litt. Ihr Koerper hatte sehr viel Fluessigkeit verloren und
alles deutete auf Cholera hin. Waehrend das Maedchen versorgt wurde,
boten Jugendliche aus dem Dorf ihre Hilfe an. "Als sie hoerten, dass wir
vom "Lutheran" kaemen (so wird in dieser Gegend der LWD genannt), waren
sie sehr begeistert und bestanden darauf, dass wir unser Symbol
aufhaengen, denn die Menschen in dieser Gegend erinnern sich alle daran,
was der LWD fuer sie bei der letzten Ueberschwemmung getan hat",
berichtete Oommen. Die wachsende Zahl von Patienten zwang das Team, die
Arbeit in ein nahegelegenes leerstehendes Haus mit drei Raeumen zu
verlagern, das von den Frauen der NGO schnell in eine "neue
Krankenstation" umgewandelt wurde. Das medizinischen Team wechselte sich
bei der Nachtwache in der Krankenstation und Hausbesuchen waehrend des
Tages ab.

Ab dem dritten Tag war die Strasse nach Ambiki fuer Allradfahrzeuge
wieder passierbar. In der Nacht des 18. November kamen 6
MedizinstudentInnen an, die das CHB-Team abloesten.

Oommen wies auf einige Fakten hin, die fuer Menschen ausserhalb Orissas
besonderer Erklaerung beduerfen, einschliesslich derer, die die Region
nur aufgrund von Berichten ueber den westlichen Teil Orissas kennen und
von Hungertoten in Kalahandi, dem Verkauf von Kindern zur Sicherung des
Ueberlebens Bolangir usw. gehoert haben.

Er stellte fest, dass Orissa im Prinzip wie zwei getrennte Bundesstaaten
organisiert ist. Orissa hat 12 Kuestenbezirke auf der einen und 18
Distrikte im Bergland auf der anderen Seite. Die Kuestenbevoelkerung,
die am staerksten vom Zyklon getroffen wurde, verfuegt insgesamt ueber
einen hoeheren Bildungsstand, ist wohlhabender und staerker in der
lokalen Regierung vertreten. Die Distrikte im Bergland hingegen sind
weit ausgedehnt, liegen im Binnenland, sind hauptsaechlich von
bestimmten ethnischen Gruppen bewohnt, sind bewaldet und das Leben dort
ist wesentlich einfacher und gefaehrdeter. Auch in der Denkweise
unterscheiden sich beide Gebiete grundlegend. Dies gehoert zu den
Charakteristika des Lebens in Orissa, und hat zu dem politischen
Verwicklungen beigetragen, die sich nach dem Wirbelsturm ereigneten. Der
Leitende Beamte stammte von der entgegengesetzten Seite, war ein Fuehrer
der ethnischen Gruppen des Berglands, sodass folglich alles gegen ihn
aufgebracht war.

Oommens Beschreibung des Zyklons erinnert auch an die vielen
einsatzbereiten Menschen, die, als einzelne oder im Team, in
vielfaeltiger Weise Hilfe leisteten, von Anfang an engagiert beteiligt
waren und wochenlang durchhielten. Insgesamt bezeichnete er die Arbeit
des Teams nach dem Wirbelsturm "gut und befriedigend" und fuegt hinzu:
"Wir sind dankbar fuer die Gelegenheit, die wir hatten, etwas sinnvolles
zu tun."

Inzwischen wurden die Hilfsleistungen durch LWB-Indien nach Ende der
Arbeit des medizinischen Teams noch ausgebaut. Laut Mogens Jeppesen,
Direktor von LWB-Indien, haben weitere Gruppen von Freiwilligen den
Mitarbeiterstab des Programms verstaerkt. Zum Beispiel haben das Nirmala
Niketan College fuer Sozialarbeit in Mumbai, sowie die
Evangelisch-Lutherischen Kirchen Andhra, Jeypur, und die Noerdliche
Evangelisch-Lutherische Kirche HelferInnen fuer die Katatrophenhilfe
entsandt. Darueber hinaus hat der LWB-Indien weitere MitarbeiterInnen
bereitgestellt, die in Gemeindegesundheitsfuersorge ausgebildet sind, um
die Arbeit von Oommens Team fortzusetzen.

Die Hilfsmassnahmen, wie z.B. die Verteilung von Nahrungsmitteln,
Kleidung und Decken, von Bauteilen fuer Notunterkuenfte, sowie von
Wasserreinigungs- und Hygienematerialien und der Brunnenbau waren Mitte
Februar weitgehend abgeschlossen. Jeppesen wies darauf hin, dass die
Teams in den Doerfern weiterhin Gesundheitsaufklaerung und
Bewusstseinsbildungsarbeit leisten.

In zwei Bezirken wurden Wiederaufbaumassnahmen eingeleitet, Plaene fuer
weitere Gebiete sind in Vorbereitung. Im Rahmen des bereits bestehenden
Programms fuer Katastrophenbereitschaft unterstuetzt LWD-Indien auch
Massnahmen, die die Faehigkeit zur Bewaeltigung derartiger Ereignisse
auf der Gemeinde- und Familienebene staerken. Hierzu wurden Einstufungen
(Participatory Rural Appraisals, PRA) vorgenommen, mit dem Ziel, die
Bereiche und Bevoelkerungsgruppen zu identifizieren, fuer die bei
Katastrophen das groesste Risiko besteht. Auch Sozial- und
Rechtsberatung fuer traumatisierte Personen gehoeren zum Programm.

Jeppesen betonte, dass die "Menschen erstaunliche Widerstandsfaehigkeit
und den Willen zur Ueberwindung aller Unbilden gezeigt haben." Die
Kinder gehen zurueck in die Schule, auch wenn die Schulgebaeude immer
noch beschaedigt sind. Die Wirtschaft kam aufgrund der Verwuestungen
weitestgehend zum Erliegen, beginnt sich aber langsam wieder zu erholen.
Jeppesen resuemierte, dass die schrecklichen Erinnerungen an den
Wirbelsturm zwar noch frisch sind, dass das Leben aber weitergehen muss
und "im Grossen und Ganzen die betroffene Bevoelkerung darum bemueht
ist, in ihrem Leben wieder ein Minimum an Ordnung zu schaffen."

*       *       *

Der Lutherische Weltbund (LWB) ist eine Gemeinschaft lutherischer
Kirchen weltweit. 1947 in Lund (Schweden) gegruendet, zaehlt er
inzwischen 128 Mitgliedskirchen, denen knapp 59,5 der weltweit 63,1
Millionen Lutheraner und Lutheranerinnen in 70 Laendern angehoeren. Das
LWB-Sekretariat befindet sich in Genf (Schweiz). Das ermoeglicht eine
enge Zusammenarbeit mit dem Oekumenischen Rat der Kirchen (OeRK) und
anderen weltweiten christlichen Organisationen. Der LWB handelt als
Organ seiner Mitgliedskirchen in Bereichen gemeinsamen Interesses, z. B.
oekumenische Beziehungen, Theologie, humanitaere Hilfe, Menschenrechte,
Kommunikation und verschiedene Aspekte von Missions- und
Entwicklungsarbeit.

Die LUTHERISCHE WELT-INFORMATION wird als Informationsdienst des
Lutherischen Weltbundes (LWB) herausgegeben. Veroeffentlichtes Material
gibt, falls dies nicht besonders vermerkt ist, nicht die Haltung oder
Meinung des LWB oder seiner Arbeitseinheiten wieder. Die mit "lwi"
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abgedruckt werden.

***
Lutherische Welt-Information (lwi)
Deutsche Redaktion: Dirk-Michael Groetzsch
E-mail: dmg@lutheranworld.org
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