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ORK - Fluchtlingsfrauen erzahlen


From "Sheila Mesa" <smm@wcc-coe.org>
Date Fri, 21 Sep 2001 15:35:53 +0200

Okumenischer Rat der Kirchen
Feature, Feat-01-17
zur Veroffentlichung frei
21. September 2001

Fluchtlingsfrauen erzahlen

Mary ist eine Witwe mit sieben Kindern, aber sie weiss nicht, wo
zwei ihrer Kinder sind. Sie ist eine Fluchtlingsfrau aus Sierra
Leone - ein Opfer der in diesem Land herrschenden brutalen
Gewalt. "1998 fluchteten wir aus Bo, der Stadt, in der wir gelebt
haben", erzahlt Mary. Eine Gruppe von Rebellen griff uns an und
ermordete meinen Mann. Sie befahlen mir, alle meine Kleider
auszuziehen und mich auf den Boden zu legen. Ich war sicher, dass
sie mich auch toten wurden. Aber einer der Rebellen war ein Junge
aus meinem Dorf. Er sagte den anderen, sie sollten mich in Ruhe
lassen. Spater fand mich mein Sohn. Wie so viele der Fluchtlinge
hatte er alle seine Kleider ubereinander angezogen und konnte mir
so etwas zum Anziehen geben. Wir flohen nach Guinea, wo wir in
einem Fluchtlingslager unterkamen."  

Auf Einladung des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen
(UNHCR) ist Mary aus Sierra Leone zusammen mit 45 anderen
Fluchtlingsfrauen anlasslich des ersten Weltfluchtlingstags am
20. Juni nach Genf gekommen. Es ist das erste Mal, dass
Fluchtlingsfrauen - aus Lagern, aus stadtischen Gebieten sowie
Binnenvertriebene - auf internationaler Ebene zusammenkommen, um
Erfahrungen auszutauschen und dem UNHCR Anstosse fur sein
zukunftigesVorgehen zu geben. Der Okumenische Rat der Kirchen
(ORK) ist eine von nur drei internationalen
Nichtregierungsorganisationen (NROs) (zusammen mit der Women's
Commission on Refugee Women and Children und den Christlichen
Verbanden Junger Frauen - CVJF), die zur Teilnahme an dieser
Tagung eingeladen worden sind.  

Die Fluchtlingsfrauen sind stark und leidenschaftlich. Sie
ergreifen die Gelegenheit, um zu berichten, was in den
Fluchtlingslagern in aller Welt wirklich geschieht. Im
Gegensatz zu den Fluchtlingen, die gelegentlich an anderen
Tagungen teilnehmen, sind die meisten dieser Frauen nie aus ihrem
Land herausgekommen... ausser um uber die Grenze zu fliehen.   

Verdolmetschung gibt es wahrend der Konferenz offiziell in vier
Sprachen; daneben wird jedoch informell in und aus mehreren
anderen Sprachen gedolmetscht, damit die Frauen miteinander ins
Gesprach kommen konnen.  

Es ist eine Begegnung, die sehr intensiv und mitreissend ist.
Frauen aus Afghanistan, Tschetschenien, Burundi, Kolumbien und
vielen anderen Landern erzahlen ihre Lebensgeschichte. Viele, wie
auch Mary, berichten von Schmerz und Leid.  

"Ich habe alles verloren, alles, als ich von zu Hause weggehen
musste, - meinen Mann, unser Geschaft, unser Haus, alles", klagt
Mary. "Dann, am 9. September, sagte der Prasident von Guinea
seinem Volk, es solle die Fluchtlinge aus dem Land vertreiben,
und daraufhin begannen die Angriffe gegen uns. Fluchtlinge in den
Stadten wurden zusammengetrieben, geschlagen und getotet. Die
Menschen griffen die Fluchtlingslager an. Ihr konnt euch nicht
vorstellen, wie schrecklich das alles war. Wir lebten in
standiger Angst.  

Vor einigen Monaten hat das UNHCR uns alle in ein anderes, neues
Fluchtlingslager weiter weg von der Grenze umgesiedelt. Die
meisten Fluchtlinge mussten zusammen mit anderen Familien in
Hutten leben. Aber ich wollte meine Familie zusammenhalten.
Wenn Kinder mit vielen anderen Leuten zusammen sind, konnen sie
schlechte Dinge lernen.  

Normalerweise ist es der Mann, der die Hutte baut, aber meine
Kinder und ich arbeiteten sehr hart, um Ziegel zu brennen und
unsere winzige Hutte zu bauen. Sie ist sehr klein und wir haben
nur eine Matte. Der Lehmboden ist unhygienisch und die Menschen
werden krank. Wir haben nur eine Decke, deshalb decken meine
Kinder sich nachts mit einem meiner Kleider zu. Ich weiss nicht,
wo zwei meiner Kinder sind: mein 21-jahriger Sohn und meine
16-jahrige Tochter. Ich weiss nicht, wo sie sind, vielleicht
in einem anderen Lager, vielleicht in Sierra Leone. Es macht mich
so traurig. Nachts kann ich nicht schlafen, weil ich mir Sorgen
um sie mache...  

Unser grosstes Problem ist momentan der Hunger. Wir bekommen
13,5 Kilo Bulgur-Weizen. Damit sollen wir 45 Tage auskommen, aber
manchmal warten wir 55 bis 60 Tage auf die neuen Lieferungen.
Alle leiden Hunger. Man muss stark sein, um sein Essen zu
bekommen. Wenn man nicht stark ist, nehmen die Manner und Jungen
es einem weg. In dem anderen Lager haben wir etwas Gemuse
angebaut, aber in diesem neuen Lager wird es eine Zeit lang
dauern, bis etwas wachst. Ich wunschte, wir wurden Reis bekommen.
Die Frauen prostituieren sich, wenn sie ihre Kinder nicht mehr
ernahren konnen, und wenn ihre Manner es herausfinden, schlagen
sie sie. Es wurde viel besser funktionieren, wenn die Frauen die
Lebenmittelkarten bekamen. Normalerweise werden sie dem
Familienoberhaupt, also dem Mann, gegeben. Aber die Manner
tauschen die Nahrungsmittel manchmal gegen Zigaretten oder
Alkohol ein. Dann sieht es fur die Familien wirklich schlecht
aus", erklart Mary.  

Andere Frauen erzahlen ahnliche Geschichten von Flucht, Tod,
Verfolgung, getrennten Familien und zerstorten 
Zukunftsperspektiven. Aber es gibt auch Geschichten der Hoffnung.
"In Afghanistan", berichtet eine Fluchtlingsfrau, "gibt es keine
Ausbildungseinrichtungen fur Lehrerinnen, Arztinnen und
Krankenschwestern. Da afghanische Frauen sich nicht von
mannlichen Arzten oder Lehrern behandeln bzw. ausbilden lassen
durfen, werden Frauen und Madchen in einigen Jahren keinen Zugang
mehr zu Gesundheitsversorgung und Ausbildung haben. In den
Fluchtlingslagern bilden wir hingegen afghanische
Fluchtlingsfrauen aus. Diese Frauen sind die Hoffnung
Afghanistans. Wir sind die Zukunft unseres Landes."  

Pionierarbeit

Der ORK ist zur Teilnahme an dieser UNHCR-Tagung eingeladen
worden, weil er eine fuhrende Rolle dabei gespielt hat, die
Anliegen von Fluchtlingsfrauen auf die internationale
Tagesordnung zu setzen. 1988 hat der ORK zusammen mit den CVJF
und anderen NROs eine erste Konsultation uber die Anliegen von
Fluchtlingsfrauen organisiert. An dieser Tagung, die wirkliche
Pionierarbeit leistete, nahmen 150 Personen aus 40 Landern teil,
von denen 35 Prozent selbst Fluchtlingsfrauen waren. Viele der
von dieser Konferenz angenommenen Empfehlungen sind in der
Zwischenzeit umgesetzt worden. Das UNHCR hat seither
entsprechende Grundsatzentscheidungen getroffen, Richtlinien
ausgearbeitet, Informationsmaterial entwickelt sowie Mitarbeiter
und Mitarbeiterinnen fur die Behandlung von Geschlechterfragen
eingestellt.   

"Vor 15 Jahren", erklart Elizabeth Ferris vom ORK-Team fur
internationale Beziehungen, "wollte niemand etwas uber die
Probleme von Fluchtlingsfrauen horen. UNHCR-Mitarbeitende und
Regierungen guckten uns an, als waren wir verruckt, wenn wir
sagten, dass Fluchtlingsfrauen besondere Bedurfnisse und
Fahigkeiten hatten, die zur Kenntnis genommen werden mussten.
Seither ist sehr viel erreicht worden. So haben die Regierungen,
zum Beispeil, eingesehen, dass weibliche Asylsuchende mit
weiblichen Behordenmitarbeitern sprechen mussen, wenn sie
berichten, wie sie sexuell missbraucht worden sind.
Hilfsprogramme wenden sich mit einkommenschaffenden Projekten
speziell an Frauen und Geschlechterfragen spielen in vielen
Organisationen mittlerweile eine wichtige Rolle. Aber solange
Frauen noch vergewaltigt werden, wenn sie Feuerholz suchen gehen,
und solange Familien Hunger leiden mussen, weil der Mann mit der
Lebensmittelkarte lieber Zigaretten besorgt, bleibt noch viel zu
tun."  

Die Erfahrungsberichte, die wir auf der Tagung im Juni 2001 in
Genf gehort haben, machen deutlich, dass noch viel getan werden
muss. Frauen sind auch weiterhin physischer Gewalt ausgesetzt -
auf der Flucht, in Fluchtlingslagern und in ihrer Familie.
"Manchmal wissen unsere Manner in den Lagern nicht, was sie den
ganzen Tag tun sollen", erzahlt eine Frau aus Burundi. "Sie sind
es gewohnt gewesen, ihre Familien zu ernahren und zu schutzen;
deshalb fuhlen sie sich jetzt nutzlos. Diese Veranderungen in der
Rolle von Mann und Frau fuhren oft zu Gewalt in der Familie."
Eine andere Frau erklart, dass die Frauen im Dadaab-Lager in
Kenia stundenlang unterwegs sind, um Feuerholz zu sammeln, und
dass sie dabei oft uberfallen oder vergewaltigt werden. "Wir
konnten Feuerholz kaufen, wenn wir Geld hatten", sagt sie.
"Wir konnten auch kleine Betriebe aufbauen, um Geld zu verdienen,
aber wir haben nichts - kein Geld -, um auch nur den Versuch zu
machen."  

Wahrend einer Diskussion mit dem Hohen Kommissar der Vereinten
Nationen fur Fluchtlinge, Ruud Lubbers, bringt eine 17-jahrige
Fluchtlingsfrau aus Athiopien die Sorgen vieler Fluchtlinge
zum Ausdruck, als sie ihm sagt, dass dringend
Ausbildungsmoglichkeiten geschaffen werden mussten. "Unsere
Kinder brauchen Schulen", insistiert sie. "Wir wollen eine
einfache, klare Antwort von Ihnen. Wir wollen, dass Sie ja sagen
- ja, dass Sie Schulen fur Fluchtlinge einrichten werden." In
seiner Antwort greift der Hohe Kommissar zum Mikrophon und sagt
einfach:"Ja, ich werde das tun. Ja."  

Haushaltskurzungen

Aber viele UNHCR-Programme sind durch eine neue Runde von
Haushaltskurzungen gefahrdet.   

"Unsere Lebensmittelrationen sind gekurzt worden", seufzt eine
Fluchtlingsfrau aus Tansania. "Genau wie unsere", antwortet eine
afghanische Frau, die nach Pakistan geflohen ist. "Unsere
auch"..."Unsere auch". Die Auswirkungen der Haushaltskurzungen im
UNHCR werden in den Geschichten der Fluchtlingsfrauen aus aller
Welt deutlich.   

Wenn Lebensmittelrationen gekurzt werden, leiden die Menschen
Hunger. Wenn Kinder nichts zu essen haben, entschliessen sich die
Mutter zur Prostitution. Hier gibt es eine klare, eindeutige,
direkte Wechselbeziehung. Wenn kein Geld da ist, um Feuerholz zu
kaufen, dann legen die Frauen immer langere Strecken zuruck, um
welches zu suchen. Oft werden sie dabei uberfallen oder
vergewaltigt. "Fruher gab es immer Seife", sagt eine Frau, "aber
jetzt ist das vorbei". "Wir hatten gehofft, Schulen zu bekommen",
sagt eine andere, "aber das UNHCR hat kein Geld, um die Lehrer zu
bezahlen." Es werden viele solcher Geschichten erzahlt.  

In den Fluren des UNHCR wird daruber diskutiert, welche
Programme von den Haushaltskurzungen betroffen sein werden, wie
Abteilung X darum kampft, dass ihre Programme weniger stark
zusammengestrichen werden. "Ursprunglich wollten sie den Haushalt
meiner Abteilung um 40% kurzen", lachelt ein Mitarbeiter, "aber
es ist mir gelungen, diese Kurzungen auf 18% zu senken." Es wird
berichtet, dass UNHCR-Stabsmitgliedern, die alter als 53 Jahre 
sind, grosszugige Vorruhestandsregelungen gewahrt werden, um die
Personalkosten zu begrenzen. Es ist traurig, wenn ein Mensch, der
sein ganzes Leben lang fur das UNHCR gearbeitet hat,
gezwungenermassen mit 53 Jahren in Rente geht. Aber es ist sehr
viel trauriger, wenn Fluchtlingsmutter mit ansehen mussen, wie
ihre Kinder Hunger leiden.  

"Mein Sohn ist 10 Jahre alt und alles, was er bisher kennen
gelernt hat, ist Krieg", klagt eine Mutter aus Angola. "Was fur
eine Kindheit ist das, wenn Kampfen und Weglaufen alles ist, was
er kennt?" Die Frau lachelt ironisch und fugt hinzu:"Ich bin 35
Jahre alt und alles, was ich selbst in meinem ganzen Leben kennen
gelernt habe, ist Krieg. Ich stamme aus Ovambo, aber ich bin
wegen des Kriegs, zusammen mit vielen anderen Vertriebenen, nach
Luanda gekommen. Alles ist hier vollig uberlaufen. Funf Menschen
leben in einem Zimmer. Ich kummere mich um meine Nichten und
Neffen, wie wir es alle bei uns tun. Meine Mutter ist letzte
Woche an Thrombose gestorben. Sie starb, weil es keine
Medikamente gibt."  

Wir horen immer neue Geschichten von Not, Leid und Schmerz.
Angesichts dessen scheint es unglaublich, dass der Haushalt des
UNHCR gekurzt wird, weil reiche Lander nicht zahlen wollen, weil
sie es satt haben, den Opfern nicht enden wollender Kriege zu
helfen. Aber sie konnen all den Krieg und all das Leid nicht mehr
satt haben als die Frauen, die an dieser Tagung teilgenommen
haben.  

Weitere Informationen erhalten Sie von:  Karin Achtelstetter,
Medienbeauftragte, 
Tel:   (++41.22) 791.61.53    Handy:  (+41) 79.284.52.12

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Der Okumenische Rat der Kirchen (ORK) ist eine Gemeinschaft von
342 Kirchen in uber 100 Landern auf allen Kontinenten und aus
praktisch allen christlichen Traditionen. Die romisch-katholische
Kirche ist keine Mitgliedskirche, arbeitet aber mit dem ORK
zusammen. Oberstes Leitungsorgan ist die Vollversammlung, die
ungefahr alle sieben Jahre zusammentritt. Der ORK wurde 1948 in
Amsterdam (Niederlande) offiziell gegrundet. An der Spitze der
Mitarbeiterschaft steht Generalsekretar Konrad Raiser von der
Evangelischen Kirche in Deutschland.

Okumenischer Rat der Kirchen
ORK-Medienbeauftragte 
Tel: (41 22) 791 6153 / 791 6421
Fax: (41 22) 798 1346
E-Mail: ka@wcc-coe.org 
Internet: www.wcc-coe.org 

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