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Argentinien vor sozialer Explosion


From "Frank Imhoff" <franki@elca.org>
Date Wed, 27 Feb 2002 18:40:18 -0600

Fachgespraech: "Argentinien - Wer zahlt die Zeche?"

Berlin (Deutschland)/Genf, 27. Februar 2002 (LWI) - Mit der
Forderung, ein neues Modell fuer ein internationales
Schulden-Management zu schaffen, das die Frage der Gerechtigkeit,
der sozialen Entwicklung und der Voraussetzungen fuer ein
nachhaltiges Wachstum in den Vordergrund rueckt, endete am
Mittwoch, 20. Februar, in Berlin, Deutschland, das Fachgespraech:
"Argentinien - Wer zahlt die Zeche?". Auf Einladung des
Lutherischen Weltbundes (LWB), des Evangelischen
Entwicklungsdienstes (EED) und des oekumenischen Instituts
SUEDWIND diskutierten VertreterInnen der deutschen
Bundesregierung, der Bundesbank sowie des Wirtschaftsministeriums
mit Fachleuten kirchlicher Hilfswerke, VertreterInnen von
Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Gaesten aus Argentinien
ueber die Situation Argentiniens und moegliche Auswege aus der
Schuldenkrise.

Angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise in Argentinien warnte
der Kirchenpraesident der rund 47.000 Mitglieder zaehlenden
Evangelischen Kirche am La Plata, Pfr. Juan Pedro Schaad, vor
einem Kollaps der argentinischen Gesellschaft. Wenn die Wirtschaft
des Landes nicht wieder in Gang komme, drohe eine soziale
Explosion. Schaad verwies auf die Ausweitung der Schuldenkrise zu
einer dramatischen Gesellschaftskrise. Durch die Auswirkungen der
Krise seien bereits grosse Teile der Mittelschicht verarmt.

Argentinien hat Auslandsschulden in Hoehe von mehr als 135
Milliarden US-Dollar und musste am 23. Dezember 2001 angesichts
der Zahlungsunfaehigkeit des Landes den Schuldendienst einstellen,
fuer den monatlich rund 1,3 Milliarden US-Dollar aufzubringen
waren. Die Arbeitslosenquote in Argentinien liegt bei ueber 18
Prozent. Zur Zeit leben rund 14 Millionen ArgentinierInnen in
Armut, haben keine Arbeit oder leben von gering bezahlten
Gelegenheitsjobs.

Zwar haetten zwei Millionen Angehoerige des Mittelstandes
Ersparnisse bei argentinischen Banken angelegt, so Schaad, diese
haetten jedoch durch die Abwertung des Peso gegenueber dem
US-Dollar die Haelfte ihres Wertes verloren. Demgegenueber haetten
Konzerne und eine Oberschicht von rund 100 Familien ihre Gewinne
ins Ausland gebracht. Die gegenwaertige Krise in Argentinien sei
kein Liquiditaetsproblem, das mit neuen Milliardentransfers zu
beheben sei, betonte der argentinische Kirchenpraesident. Es
handele sich vielmehr um ein strukturelles Problem und es beduerfe
einer grundsaetzlichen Kurskorrektur. Auch seien "Wucherzinsen"
von bis zu 22 Prozent, wie sie noch Ende 2001 vereinbart worden
seien, nicht zu verkraften. Es sei fraglich, ob diese Zinssaetze
ueberhaupt ethisch vertretbar seien.

Die Wirtschaftskrise in Argentinien zeige, dass das internationale
Schuldenmanagement gescheitert sei. Auch die Bekaempfung der
Inflation durch die Dollarparitaet habe es nicht geschafft, im
Produktiv- und Finanzsektor die Grundlagen fuer ein solides
Wachstum zu schaffen, betonte Kirchenpraesident Schaad.

Pedro Morazan vom Institut SUEDWIND forderte, die
Wiederherstellung der sozialen Sicherheit der unter der
Armutsgrenze lebenden ArgentinierInnen muesse im Mittelpunkt eines
fairen und transparenten Entschuldungsverfahrens stehen - und
nicht die Interessen der Glaeubiger oder des Internationalen
Waehrungsfonds (IWF). "Die von den Glaeubigern und hier vor allem
vom IWF durchgesetzten Schuldenumwandlungen und
-umstrukturierungen, Stuetzungsaktionen, Senkungen der Realloehne
und schliesslich der direkte Zugriff auf die Bankkonten der
Privathaushalte haben zu keiner Loesung gefuehrt", betonte Morazan
waehrend der Podiumsdiskussion in Berlin.

Der argentinische Wirtschaftswissenschaftler Jorge Schwarzer hob
die Notwendigkeit von Wachstum und Entwicklung in Argentinien
hervor, damit in einem langfristigen
Schuldenumstrukturierungsprozess die Zahlungsfaehigkeit des Landes
wieder hergestellt werden koenne. Fuer die argentinische Krise
gebe es zwei Loesungsansaetze, so Schwarzer. Der erste folge den
Bedingungen des IWF mit einer neo-liberalen Anpassung der
Wirtschaft, Oeffnung der Maerkte und Privatisierungen. Argentinien
sei aber bisher schon ein "Musterschueler" des IWF gewesen, mit
dem Ergebnis eines staendig schrumpfenden oeffentlichen Haushalts,
der keine Investitionen, z.B. in Infrastruktur, Bildung und
Gesundheit mehr habe vornehmen koennen. Der zweite Weg sei eine
"Politik der Entwicklung", bei der eine gezielte Foerderung der
Produktion eine Voraussetzung fuer mehr Wachstum sei. Hinzu komme
beim Export eine Konzentration auf den suedamerikanischen Markt
und eine Staerkung der Verbindungen zur EU.

Der argentinische Botschafter in der Schweiz, Miguel Angel Espeche
Gil, hinterfragte die Legitimitaet der Schulden. Sowohl Schwarzer
als auch Gil betonten uebereinstimmend, dass die Grundschulden
schon lange beglichen worden seien. Dies gelte nicht nur fuer
Argentinien. Die ausstehen Zahlungen seien nunmehr die "Zinsen der
Zinseszinsen". Zumindest ein Teilerlass der Zinsen sei absolut
rechtmaessig und notwendig.

Nach Ansicht des SPD-Bundestagsabgeordneten Detlev von Larcher hat
sich das Schuldenmanagement der internationalen
Finanzorganisationen verbessert. Es reiche aber noch nicht aus, um
Schuldnerlaendern einen Neuanfang zu ermoeglichen. Dafuer sei ein
faires Schiedsverfahren erforderlich, das die Prinzipien des
Insolvenzrechtes und alle Glaeubiger beruecksichtige. Ein solches
von der deutschen Bundesregierung fuer die UN-Konferenz zur
Entwicklungsfinanzierung im mexikanischen Monterrey
vorgeschlagenes Insolvenzverfahren kaeme fuer Argentinien jedoch
zu spaet, hiess es.

Ein Schuldenerlass ohne Gerechtigkeit, sozialen Ausgleich und
Transparenz waere nicht dazu geeignet, eine neue
Vertrauensgrundlage zwischen Staat und Gesellschaft in Argentinien
zu schaffen, betonte der EED-Vorstandsvorsitzende Konrad von
Bonin. Die korrupte Staatsklasse des Landes habe ihren Ruf
vollkommen ruiniert. Dies gelte auch fuer auslaendische Banken und
Firmen, die sich im Zusammenhang mit der Privatisierung des
oeffentlichen Sektors in Argentinien teilweise ruecksichtslos
bereichert haetten. Ebenso trage der IWF durch seine
Strukturanpassungspolitik Verantwortung fuer die Misere. An ihr
sei aber auch eine argentinische Geldelite beteiligt, die rund 140
Milliarden US-Dollar ins Ausland geschafft habe und 25 Milliarden
US-Dollar in privaten Tresoren im Lande horte.

Die Menschen in Argentinien beduerften dringend der
internationalen Solidaritaet, so von Bonin. Dies sei auch Aufgabe
der deutschen Bundesregierung als Teil der internationalen
Glaeubigergemeinschaft. Mit Interesse habe er die
Hilfsversprechungen von Bundeskanzler Gerhard Schroeder waehrend
seines Besuches in Argentinien zur Kenntnis genommen. Er hoffe, so
von Bonin, dass die Bundesregierung den Worten nun auch zuegig
Taten folgen lasse. (866 Woerter)

(Dieser Beitrag basiert auf Informationen von Kim Weidenberg,
SUEDWIND e.V. und epd-Entwicklungspolitik, Ausgabe 04/2002.)

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