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Schrei nach Gerechtigkeit


From "Frank Imhoff" <FRANKI@ELCA.ORG>
Date Tue, 23 Apr 2002 12:24:54 -0500

Hilfskonvoi christlicher Organisationen erreicht am 18. April
Tulkarem und Anabta im Westjordanland

Ein Bericht von Bruder Elija von der katholischen Gemeinschaft
Agnus Dei, Jerusalem (Redaktionell gekuerzt)

CSI, World Vision, Lutherischer Weltbund, Caritas und MenonitInnen
schliessen sich zu einem christlichen Aktionsbuendnis fuer
humanitaere Hilfe in den besetzten autonomen Gebieten des
Westjordanlandes zusammen. Nach Tulkarem und Anabta werden
Lebensmittelpakete fuer ca. 1.000 Familien gebracht sowie Kissen
und Decken und anderes Material. Die Waren werden bei oertlichen
NGO's (Nichtregierungsorganisationen) abgegeben, die die
beduerftigsten Menschen unterstuetzen.

Tulkarem und das benachbarte Anabta wurden wie viele Staedte und
Doerfer von der israelischen Armee ueber zehn Tage besetzt, alle
Haeuser wurden durchsucht, um - nach israelischem Sprachgebrauch -
TerroristInnen ausfindig zu machen.

Der Hilfskonvoi startete mit zwei Lastwagen und sieben
Begleitfahrzeugen gegen 7 Uhr in Jerusalem. Die
Fahrzeugbesatzungen bestanden aus arabischen Fahrer und
HelferInnen sowie EuropaeerInnen bzw. AmerikanerInnen, um etwaige
Repressalien zu verhindern. Ganz gelang dies allerdings nicht,
denn einem arabischen Fahrer wurde von einem israelischen Soldaten
im Beisein der Mitfahrenden der Ausweis ins Gesicht geschleudert.

Ich begleitete einen jungen Palaestinenser, der einen der beiden
Lastwagen steuerte. Leider sprach er nur wenige Brocken Englisch,
so dass die verbale Kommunikation sehr eingeschraenkt blieb.
Allerdings konnte ich gut beobachten, wie er seinen Zorn immer
wieder zuegelte angesichts der vielen Checkpoints und
Behinderungen, die fuer den humanitaeren Transport lange
Wartezeiten mit sich brachten. Mich behandelte er sehr hoeflich
und zeitweise mit grosser Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Es
lag ihm offensichtlich sehr daran, dass die begleitenden
EuropaeerInnen Kenntnis von der Situation nahmen und da ich
primaer journalistisch taetig wurde, unterstuetzte er mich
haeufig.

Der humanitaere Transport hatte keine Sondererlaubnis seitens der
Israelis, sondern stuetzte sich in seiner Aktion auf
internationales Recht, welche humanitaere Hilfe fuer Krisen und
Hilfsgebiete vorsieht. Auch Israel hat diese Uebereinkuenfte
(Genfer Konventionen) unterzeichnet.

Vor Tulkarem, die Stadt umfasst mit umliegenden Gemeinden rund
40.000 BewohnerInnen, war ein grosser Checkpoint, an dem Teile der
israelischen Truppen mit mehreren Panzern stationiert waren, die
erst vor kurzem die Stadt geraeumt hatten. Zunaechst wollten die
Soldaten alle Pakete durchsuchen, liessen sich aber dann von den
fuer den Konvoi verantwortlichen AmerikanerInnen ueberzeugen, dass
es sich nur um Lebensmittel handelte. Sie begnuegten sich mit
Stichproben und der Personenkontrolle.

Nach mehrstuendiger Fahrt war dann das Ziel erreicht: ein Heim
fuer Behinderte und Waisen am Rand der Stadt. Dort wurden wir
herzlich empfangen und wir begannen unverzueglich mit dem
Entladen. Ich hatte Gelegenheit, mit einigen BewohnerInnen zu
sprechen, die sich entruestet ueber die Behandlung durch die
israelischen Soldaten beklagten. Vor allem kraenkte sie die
demuetigende Behandlung der Maenner, die sich bis auf die
Unterhose oeffentlich entkleiden mussten. Anbetracht der Stellung
des Mannes in der arabischen Gesellschaft wird verstaendlich, was
dies insbesondere vor den Frauen und Kindern bedeutet.

Eine Lehrerin erzaehlte, dass die Soldaten ihre Schule durchsucht
haetten und dabei mutwillig Fenster und Einrichtungen zerstoert,
Mauern eingerissen und manche Gebaeudeteile beschaedigt haetten.
In der benachbarten Schule konnte ich mich ueberzeugen, dass die
Schilderungen zutrafen. Immer wieder fragten Betroffene, wieso man
denn Schulen beschaedigt oder zerstoert, wenn man TerroristInnen
ausfindig machen moechte.

Immer wieder wiesen die Menschen auf die Kinder hin, die den
Einmarsch der Soldaten, die Hausdurchsuchungen, die Entwuerdigung
der Vaeter miterleben mussten, mit den entsprechenden psychischen
Folgen von Angst und Unsicherheit. Ein Blick in die Augen der
kleineren Kinder konnte dies bestaetigen. Sie beklagten die sich
rasch verschlechternden oekonomischen Bedingungen. Die Menschen
koennen so gut wie nichts mehr kaufen, weil sie durch die Sperren
der Israelis z. B. auch keinen Zugang mehr zu ihren Konten haben.

Nach rund einer Stunde setzte der Konvoi seine Fahrt ins ca. fuenf
km entfernte Anabta fort. Mir fielen bei diesem Wegabschnitt die
fast unheimliche Stille und die leere Strasse auf. Es war fuer
mich ein sehr starker Eindruck, so dass ich nicht ueberrascht war,
als wir durch eine weitere Strassensperre angehalten wurden.
Mitten im Gelaende war ein Panzer positioniert und mit vier
Soldaten besetzt. Zwei davon brachten sich in Stellung und die
anderen kamen, um zu sehen, was es mit dem Konvoi auf sich hat.
Wiederum folgten laengere Verhandlungen und zunaechst sah es so
aus, als wollten sie uns nicht passieren lassen.

Aber nach einer Wartezeit von einer guten halben Stunde wurden wir
durchgelassen. Beim Erreichen der ersten Haeuser verstaerkte sich
der vorherige Eindruck noch. Kein Mensch war auf der Strasse,
keine Autos, kein Leben. Wiederum war ein Panzer zu sehen, diesmal
gab es jedoch keine Kontrolle mehr. Erst in der Innenstadt sah man
Menschen. Unter normalen Umstaenden haette unsere Hilfsladung auch
in Tulkarem abgegeben werden koennen. Doch in dieser schwierigen
Situation war wohl einzig dieser Konvoi in der Lage, auch der
Bevoelkerung von Anabta zu Hilfe zu eilen.

Nach dem Entladen der Fahrzeuge wurden wir vom Buergermeister
empfangen, der sich herzlich fuer die Lieferung und noch mehr fuer
die erwiesene Solidaritaet bedankte. Milch fuer Kinder wird
besonders gebraucht, Medizin und andere Gueter werden immer
knapper.

Ein Oekonomieprofessor sprach ueber die sich dramatisch
verschlechternde Lage besonders auf medizinischem Gebiet und
wieder wurde die Dankbarkeit fuer unser Kommen ausgedrueckt.
Gefreut hat mich, offensichtlich auch vom Zeichen christlicher
Solidaritaet in dieser dramatischen Situation beruehrt, dass der
Professor ausdruecklich erwaehnte, dass palaestinensische
ChristInnen und MuslimInnen in dieser Situation naeher
zusammenruecken.

Am Eingang eines oeffentlichen Gebaeudes war ein Foto eines von
den Israelis erschossenen Mannes zu sehen. Niemand durfte sich um
ihn kuemmern und ihm helfen! Von verschiedenen Seiten wird immer
wieder berichtet, dass Soldaten ohne Vorwarnung schiessen und
dadurch viele unbeteiligte Menschen ums Leben kommen. Der
Buergermeister beklagte grosse Schaeden, Zerstoerungen, mutwillige
Beschaedigung der Bibliothek usw. Laut seinen Angaben wurden
zweihundert Menschen verhaftet, zwanzig kamen ins Gefaengnis.

All diese Eindruecke machten mich sehr nachdenklich und auf der
Rueckfahrt suchte ich immer wieder das Gespraech mit den uns
begleitenden AraberInnen. Die engagierten arabischen Frauen
stimmten in ihren Ansichten ziemlich ueberein. Sie fuehlen sich
wie Gefangene im eigenen Land und immer wieder kam ihre
Erniedrigung zur Sprache. Eine den Konvoi begleitende Frau
erzaehlte mir, dass ihr das Haus in Jerusalem einfach weggenommen
wurde. Sie sei realistisch genug, es nicht wieder
zurueckzufordern. Sie sprach sich ausdruecklich dafuer aus, dass
zwei Staaten nebeneinander existieren sollen.

Dann fiel das Wort: Gerechtigkeit. Bei meinem verschiedenen
GespraechspartnerInnen kam dieses Wort immer wieder zur Sprache.
Die PalaestinenserInnen fordern Gerechtigkeit und sie fuehlen sich
in dieser Forderung nahezu allein gelassen.

Wenn sie an Hilfe von aussen denken, dann hoffen sie auf
europaeische Staaten, waehrend sie zu Amerika kein Zutrauen haben.
Der Besuch des US-amerikanischen Aussenministers Colin L. Powell
wird eher skeptisch bis kontraproduktiv bewertet.

Meine GespraechspartnerInnen weichen auch kritischen Fragen nicht
aus. So fragte ich sie konkret nach ihrer Meinung zu den
Selbstmordattentaten. Die Antwort fiel hier differenzierter aus.
Als ChristInnen koennen sie es nicht befuerworten, solche
TaeterInnen als MaertyrerInnen anzusehen. Insgesamt haben sie wohl
die Ansicht, dass keine unschuldigen Menschen attackiert werden
sollen. Andererseits bezeichnen sie diese Attacken als eine Form
von Selbstverteidigung und Widerstand gegen eine unterdrueckende
Besatzungsmacht. Ist die Toetung von unschuldigen ZivilistInnen
nicht Staatsterrorismus, lautet dann gewoehnlich die Gegenfrage.
(1153 Woerter)

*       *       *

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