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VRK: Aschkalon und Madschdal


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Date Tue, 14 Oct 2003 17:25:51 +0200

Vkumenischer Rat der Kirchen
zur Vervffentlichung frei Feat-03-12
15. Oktober 2003

Vom Umgang mit Tatsachen: die umstrittene Geschichte von
Aschkalon und Madschdal 

Von Larry*, einem vkumenischen Begleiter des Vkumenischen
Begleitprogramms des VRK in Paldstina und Israel (EAPPI)

Jeder hat das Recht auf seine eigene Meinung, hei_t es
zumindest. Und da Meinungen naturgemd_ das Ergebnis persvnlicher
Einschdtzungen sind, sollte man offen dar|ber reden kvnnen. Aber
was ist mit Tatsachen? Bei Tatsachen kann man davon ausgehen,
dass sie unverdnderlich sind. Die Sonne geht im Osten auf und im
Westen unter, oder? In Israel und Paldstina allerdings sind auch
Tatsachen Gegenstand kontroverser Diskussionen. Wie sich z.B. an
einem sonnigen Samstag in dem Badeort Aschkalon am Mittelmeer
zeigte.

Rein du_erlich kvnnte Aschkalon, das genau nvrdlich vom
Gazastreifen liegt, leicht ein Badeort in New Jersey sein. Aber
man braucht nicht allzu scharfsinnig zu sein, um die beklemmende
Gegenwart einer Vergangenheit zu sp|ren, die noch nicht ganz
vergangen ist. Zwischen den hellen neuen Gebduden sind das
winzige Museum und die kleinen Stra_encafis sichtbare Zeichen
einer ganz anderen Vergangenheit. Ein gro_es Gebdude liegt in
Ruinen und ein Minarett, das einmal Teil einer Moschee war,
erhebt sich inmitten der Tische, an denen russische Israelis
ihren Kaffee schl|rfen. Diese \berreste sind Erinnerungen an eine
Zeit, in der hier eine andere Stadt existiert hat - Madschdal,
eine paldstinensische Stadt, deren Bewohner 1950 vertrieben
wurden, um Platz f|r die Stadt Aschkalon zu machen. Aber diese
Tatsache wird von den hier lebenden Israelis trotz der sichtbaren
Beweise nicht gerne akzeptiert.

An einem sonnigen Samstag - am Samstag, dem 20. September -
begleiteten Mitglieder des Vkumenischen Begleitprogramms in
Paldstina und Israel (EAPPI) Dutzende von Fl|chtlingen aus
Madschdal und ihre Familien auf einer Besuchsreise in die alte
Heimat bzw. dem, was davon |brig geblieben ist. Die meisten
dieser Fl|chtlinge und ihrer Nachkommen leben seit 1950 in der
paldstinensisch-israelischen Stadt Lod, nordvstlich von
Aschkalon. Die Reise nach Aschkalon war von der israelischen
Organisation Zochrot organisiert worden. Das hebrdische Wort
zochrot bedeutet "Erinnert Euch". Diese Organisation wurde mit 
dem Ziel gegr|ndet, in der j|disch-israelischen Gesellschaft das
Bewusstsein f|r die "al Naqba" ("Katastrophe" auf Arabisch) zu
stdrken - die Vertreibung der Paldstinenser und die Zerstvrung
ihrer Dvrfer, die mit der Gr|ndung des Staates Israel im Jahr
1948 einhergingen.

Eine der vffentlichkeitswirksamsten Aktivitdten von Zochrot ist
die Aufstellung von Gedenktafeln, die an die Existenz zerstvrter
Dvrfer und Stddte erinnern. Damit soll das, was einmal existiert
hat, anerkannt und die Versvhnung zwischen den beiden Vvlkern
gestdrkt werden. Zochrot verbindet damit die doppelte Hoffnung,
dass die Paldstinenser eines Tages in ihre Dvrfer zur|ckkehren
kvnnen und dass j|dische Israelis es lernen, das Leid der
Paldstinenser zu verstehen und ein Bewusstsein daf|r zu
entwickeln, dass allen B|rgern und B|rgerinnen Israels -
j|dischen wie arabischen - die gleichen Rechte zustehen.
   
Am 20. September stellte Zochrot in Aschkalon vier Gedenktafeln
auf, auf denen in Arabisch und Hebrdisch an das ehemalige Haus
einer bekannten Familie aus Madschdal, an zwei fr|here
Stra_ennamen sowie an den Ort erinnert wird, an dem die
Einwohner der Stadt 1950 zusammen getrieben wurden, bevor sie die
Stadt verlassen mussten.

Taha Alkhtib war einer der Paldstinenser, die an dieser Aktion
teilnahmen. Sein Vater war erst neun Jahre alt, als seine Familie
aus ihrem Haus vertrieben wurde. Jedes Mal, wenn Zochrot eine
Tour organisiert, nehmen die Familienmitglieder daran teil, um
ihre Geschichte zu erzdhlen. "Wir m|ssen unsere Kinder und jungen
Leute hierher bringen, damit sie ihre Vergangenheit verstehen",
erkldrte Alkhtib. "Ich glaube nicht wirklich, dass wir eines
Tages hierher zur|ckkehren kvnnen, aber ich glaube, dass es
wichtig ist, die Erinnerung wach zu halten, damit unser Kampf
eines Tages Anerkennung findet."

Die ganze Aktion schien friedlich abzulaufen ... bis es
plvtzlich unter der Gedenktafel, die an die Sammelstelle f|r
die Bewohner von Madschdal erinnern sollte, zu einer heftigen
Auseinandersetzung kam. Angestachelt von zwei seiner Nachbarn
hatte ein Bewohner aus Aschkalon das Schild genommen und wollte
gerade damit weglaufen; eine Paldstinenserin lief ihm nach und
hielt ihn fest. Der Mann schrie, die Gedenktafel beleidige ihn,
weil sie nicht wahr sei. Er wohne seit jeher in Aschkalon und
habe nie einen Paldstinenser getroffen, der hier gelebt hdtte.
Sein Nachbar mischte sich ein und es folgte eine hitzige
Diskussion. Die vier standen sich wutentbrannt gegen|ber: die
paldstinensische Frau schrie ihre ganze Frustration heraus,
einer der Israelis erhob seine Faust und schien in seiner Wut
noch nicht einmal zu merken, dass ein Kamerateam genau neben ihm
stand und die Szene filmte. Das historische Verstdndnis dieser
vier Menschen passte einfach nicht zueinander.

Teddy Katz, ein j|discher Israeli, der an der Demonstration
teilnahm, verteidigte die Frau. Mitten in dem hitzigen
Wortgefecht dar|ber "wer als erster da war" fragte Katz den Mann,
der am stdrksten erregt war: "Aber die Moschee? Dann sagen Sie
mir, wer die Moschee gebaut hat?" Die unersch|tterliche Antwort
lautete, dass das eine j|dische Moschee sei!

"Es hat mich wirklich |berrascht, wie unterschiedlich die
Menschen hier die Geschichte interpretieren", erzdhlte Louise,
eine vkumenische Begleiterin, die den Zwischenfall miterlebt hat.
"Die historischen Tatsachen existieren nicht mehr, nur die eigene
Erinnerung zdhlt. Dieser Zwischenfall hat mir deutlich gemacht,
warum es |berhaupt einen Konflikt gibt. Allzu oft wird vergessen,
dass man miteinander reden und einander zuhvren sollte.
Unwissenheit, kombiniert mit Angst, ist eine gefdhrliche Waffe."

"Es ist traurig, dass der ganze Konflikt manchmal auf die Frage
reduziert wird, wer zuerst da war", f|gte Lena, eine andere
vkumenische Begleiterin, hinzu. "Es bringt nichts, wenn man
dar|ber streitet, wer zuerst da war. Denn jede der beiden Seiten
kann ja im Grunde genommen f|r sich beanspruchen, zuerst da
gewesen zu sein. Es war bewegend, ja ersch|tternd, zu sehen, wie
tief der Anspruch der einen die anderen verletzt. Es schmerzte
die j|dischen Israelis so sehr zu akzeptieren, dass dies einmal
ein nicht-j|discher Ort war."

Die Auseinandersetzung zwischen der paldstinensischen Frau und
den j|dischen Bewohnern von Aschkalon konnte schlie_lich in einem
intensiven Gesprdch beigelegt werden. Der Mann, der die
Gedenktafel heruntergeholt hatte, entschloss sich, sie wieder
anzubringen. Er bot der paldstinensischen Frau zum Zeichen der
Versvhnung sogar ein Glas Wasser an. Daraufhin gingen seine
Nachbarn missmutig nach Hause zur|ck und murrten, dass all dies
die Schuld von Meretz, der politischen Partei Israels sei, der
Katz angehvrt. Meretz setzt sich f|r die friedliche Versvhnung
zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn - einschlie_lich
der Paldstinenser innerhalb wie au_erhalb Israels -  ein.

Lena war beeindruckt von der Reaktion des Mannes. "Es hat mir
Mut gemacht. Der Mann war so bewegt von den Gef|hlen der Frau,
dass er das Schild wieder anbrachte!"

Katz wandte sich an die versammelten Menschen und erkldrte,
warum Aktionen wie diese dazu beitragen kvnnen, unter den
Israelis ein neues Bewusstsein daf|r zu schaffen, wie ihr Staat
entstanden ist: "Aus dieser Stadt und aus zahlreichen anderen
Orten wurden viele Paldstinenser vertrieben. Damals gab es hier
500 Dvrfer, die heute alle nicht mehr existieren. Sie (die
Paldstinenser aus Madschdal) haben hier gelebt, sind hier zur
Schule gegangen, haben hier in ihrer Moschee gebetet. Wir m|ssen
verstehen, dass dieser Ort nicht von Anfang an j|disch war. Nach
1948 wurde Madschdal zerstvrt und Aschkalon aufgebaut."

"Wir erkldren hier und jetzt, dass ihr (die Paldstinenser)
hierher gehvrt", schloss Katz. "Es ist euer Land, genau wie es
unser Land ist. Es tut uns leid, dass unsere beiden Vvlker Krieg
gegeneinander f|hren. Diejenigen von uns, die heute gekommen
sind, wollen einen Kompromiss mit den Paldstinensern, damit alle
gleichberechtigt hier leben kvnnen. Auch wenn dies ein j|discher
Staat ist, so ist hier doch Platz f|r die Paldstinenser. Ihr habt
Rechte, nicht weil wir sie euch geben. Ihr habt genauso Rechte,
wie wir Rechte haben."

Wer war nun aber tatsdchlich zuerst in Aschkalon bzw. Madschdal?
Wenn die Menschen sich noch nicht einmal |ber Tatsachen der
Vergangenheit einig sind, wie soll dann eine ehrliche Diskussion
|ber die Zukunft dieser beiden Vvlker stattfinden kvnnen?
Vielleicht liegt darin eine der entscheidenden Funktionen der
vkumenischen Begleitpersonen. Die Begleiter und
Begleiterinnen, die mit ihrer Prdsenz Paldstinenser und
Organisationen wie Zochrot unterst|tzen, tragen dazu bei, dass es
anstelle der gegenseitigen Beschimpfungen zu Gesprdchen und
Zeichen der Versvhnung kommt. Das ist ein kleiner, aber
entscheidender Schritt auf dem Weg zum Aufbau einer Kultur der
Wahrheit und des dauerhaften Friedens.

Als wir ungefdhr eine Stunde spdter an dem Minarett
vorbeigingen, von dem aus die Menschen in Madschdal vor mehr als
50 Jahren zum Gebet gerufen worden waren, und an den Ort
zur|ckkehrten, wo der Streit stattgefunden hatte, war die
Gedenktafel noch an ihrem Platz. Vielleicht gibt es ja doch noch
Hoffnung!

Das Vkumenische Begleitprogramm in Paldstina und Israel (EAPPI)
lduft seit August 2002. Vkumenische Begleitpersonen beobachten
die Menschenrechtslage und melden Verstv_e gegen die
Menschenrechte und das humanitdre Vvlkerrecht, unterst|tzen
Aktionen gewaltlosen Widerstands an der Seite christlicher und
muslimischer Paldstinenser und israelischer Friedensaktivisten,
gewdhren Schutz durch ihre gewaltlose Prdsenz, setzen sich f|r
politische Verdnderungen ein und |ben ganz allgemein Solidaritdt
mit den Kirchen und allen, die sich gegen die Besetzung wenden.
Das Programm wird vom Vkumenischen Rat der Kirchen koordiniert.

* Larry, 37 Jahre, kommt aus den Vereinigten Staaten und ist
rvmisch-katholisch. Zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn
arbeitete er als Sportredakteur und Herausgeber, jetzt 
unterrichtet er Welt- und Kulturgeschichte. In seiner Funktion
als vkumenischer Begleiter ist Larry Chefredakteur und
Kommunikationsbeauftragter; er reist in der ganzen Region umher
und schreibt Artikel |ber die Erfahrungen der Begleitpersonen.
Die vkumenischen Begleiterinnen Lena (aus Schweden) und Louise
(aus Ddnemark) haben zu dem vorliegenden Artikel beigetragen. 

Die vkumenischen Begleitpersonen werden aus Sicherheitsgr|nden
nicht mit vollem Namen genannt.

Weitere Artikel und Berichte vkumenischer Begleitpersonen finden
Sie auf unserer Webseite: http://www2.wcc-coe.org/eappi.nsf 

Weitere Informationen, bitte kontaktieren Sie Juan Michel,
Medienbeauftragter: Tel.: +41 22 791 6153, Handy: +41 79 507
6363, media@wcc-coe.org 

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Der Vkumenische Rat der Kirchen (VRK) ist eine Gemeinschaft von
342 Kirchen in |ber 100 Ldndern auf allen Kontinenten und aus
praktisch allen christlichen Traditionen. Die rvmisch-katholische
Kirche ist keine Mitgliedskirche, arbeitet aber mit dem VRK
zusammen. Oberstes Leitungsorgan ist die Vollversammlung, die
ungefdhr alle sieben Jahre zusammentritt. Der VRK wurde 1948 in
Amsterdam (Niederlande) offiziell gegr|ndet. An der Spitze der
Mitarbeiterschaft steht Generalsekretdr Konrad Raiser von der
Evangelischen Kirche in Deutschland.

Vkumenischer Rat der Kirchen
VRK-Medienbeauftragte 
Tel: (41 22) 791 6153 / 791 6421
Fax: (41 22) 798 1346
E-Mail: media@wcc-coe.org 
Internet: www.wcc-coe.org 

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