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(LWI 07-09-2009) FEATURE: Kleine lutherische Gemeinden in Kasachstan - Die Kraft zum Ueberleben


From "Dirk-Michael Grötzsch" <dmg@lutheranworld.org>
Date Thu, 30 Jul 2009 19:22:12 +0200

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FEATURE: Kleine lutherische Gemeinden in Kasachstan - die Kraft
zu ueberleben

LWB-Generalsekretaer Noko zeigt sich tief beruehrt vom Schicksal
der LutheranerInnen in Kasachstan

Astana (Kasachstan)/Genf, 30. Juli 2009 (LWI) - In den letzten
70 Jahren hat die lutherische Kirche in Kasachstan schwierige
Zeiten durchgemacht; sie hat jedoch ueberlebt. Noch vor 20 Jahren
war sie eine starke Gemeinschaft, die durch die schlimme
Erfahrung der Zwangsumsiedlung gepraegt war. Heute gehoeren ihr
nur noch kleine, verarmte Gemeinden an.

Zwei traumatische Ereignisse haben die Geschichte der Kirche
gepraegt.

Zum einen die Erinnerungen an die Zwangsdeportation von einer
halben Million zumeist lutherischer Russlanddeutscher aus der
damaligen Wolgarepublik. Sie sind auch heute noch in den Koepfen
vieler Menschen und werden von den Ueberlebenden durch muendliche
Ueberlieferung wach gehalten. Urspruenglich hatten sich viele von
ihnen auf Einladung der russischen Zarin Katharina der Grossen im
18. Jahrhundert in der Wolgarepublik angesiedelt. Der sowjetische
Diktator Joseph Stalin verbannte sie 1941 nach dem Angriff
Deutschlands auf die Sowjetunion mitten in einem sibirischen
Winter in die russische Steppe - bei Minusgraden, ohne
Nahrungsmittel und Unterkuenfte. 

Und dann, 50 Jahre spaeter, als sie sich eine neue Existenz und
neue Gemeinschaften aufgebaut hatten, erlangte Kasachstan die
Unabhaengigkeit, und es setzte eine Massenemigration vieler
Russlanddeutscher nach Deutschland ein, die eine Riesenluecke in
der Heimat hinterliess. Ganze Gemeinschaften wurden von der
Landkarte ausradiert und die ehemals ueberfuellten Kirchen
blieben innerhalb weniger Jahre leer. 18 Jahre nach Beginn der
Emigrationswelle umfasst die Evangelisch-Lutherische Kirche in
der Republik Kasachstan (ELKRK) heute knapp ueber 50 Gemeinden,
verglichen mit 228 im Jahr 1993.

“Es war eine schlimme Zeit, als so viele Menschen nach
Deutschland auswanderten. Ich danke Gott, dass unsere Gemeinde
ueberlebt hat”, erinnert sich Rubin Sternberg, Vorsitzender der
Lutherischen Synode in Kasachstan.

>Lange Wege

Die leidvolle Geschichte der kasachischen Kirche hat bei Pfr.
Dr. Ishmael Noko, Generalsekretaer des Lutherischen Weltbundes
(LWB), der die ELKRK-Gemeinden in den Jahren 2003 und 2006
mehrfach besuchte, einen tiefen Eindruck hinterlassen. Anfang
Juli verbrachte Noko drei Tage in Astana und Pawlodar, wo er mit
ueberaus engagierten Pfarrern der weit verstreuten Gemeinden
zusammentraf und ihnen aufmerksam zuhoerte. “Ihre Kirche mag
noch so klein sein, aber ich ueberbringe Ihnen die Gruesse von
mehr als 68 Millionen Lutheranern und Lutheranerinnen aus aller
Welt”, begruesste der Generalsekretaer seine ZuhoererInnen,
unter denen auch ein Pfarrer war, der ganze 1.000 Kilometer von
seiner Gemeinde in Ostkasachstan bis nach Astana zurueckgelegt
hatte, um den LWB-Generalsekretaer zu treffen.

Im Gespraech mit den Pfarrern sagte Noko: “Ich glaube, dass
Lutheraner und Lutheranerinnen ausserhalb Kasachstans erfahren
muessen, wie Sie dem Wort Gottes die Treue bewahrt haben. Viele
haetten nicht standgehalten, doch Sie haben ueberlebt. Sie haben
der Welt gezeigt, dass die Kirche Jesu Christi allen Widrigkeiten
zum Trotz fortbestehen kann.”

Die Strasse von Astana nach Pawlodar, die durch die kasachische
Steppe fuehrt, ist lang, gerade und holperig. Der Fahrer von
Bischof Juri Nowgorodow steuert immer wieder auf die falsche
Strassenseite, um tiefe Schlagloecher zu vermeiden. “Das hier
ist die kasachische Autobahn”, sagt der Bischof laechelnd. Die
eintoenige Weidelandschaft, auf der in der Entfernung Schafe
grasen, die von berittenen kasachischen Hirten bewacht werden,
wird nur von Graebern am Strassenrand unterbrochen; eine
staendige Warnung, wie gefaehrlich die Strasse ist. 

Die insgesamt 900 Kilometer lange Hin- und Rueckfahrt von Astana
nach Pawlodar, die fuer den Bischof und die Pfarrer in diesem
riesigen Land reine Routine ist, dauerte 19 Stunden. Nowgorodow
ist seit 2005 Bischof der ELKRK.

Die 75-jaehrige Klara Walejewa gehoert der kleinen Gemeinde in
Pawlodar in Nordostkasachstan an. Sie war noch ein Kind, als die
Wolgadeutschen ohne vorherige Ankuendigung ins Exil verbannt
wurden. Sie erinnert sich noch daran, dass sie damals keine Zeit
hatten, ihr Hab und Gut zusammenzupacken, und wie ihr Vater auf
der Flucht starb. Seit ihrem siebten Lebensjahr musste sie, genau
wie ihre vier Geschwister, hart arbeiten. Auf die Frage, warum
sie nicht die Schule besucht habe, antwortet sie mit leiser
Stimme: “Wir hatten dafuer nicht die richtigen Kleider.” Seit
ihrem zwoelften Lebensjahr arbeitete sie als Hausmaedchen und mit
19 Jahren heiratete sie. Heute ist sie verwitwet und lebt mit
ihrer Tochter in Pawlodar, wo sie regelmaessig die Kirche
besucht. Die Kirche ist ihr Lebensmittelpunkt und haelt die
Vergangenheit in ihr wach. Sie habe nie den Wunsch gehabt, nach
Deutschland auszuwandern, erzaehlt sie. Ihre Heimat sei hier in
Pawlodar.

>Emigration

Alla Schirochowa spricht fliessend deutsch. Sie wuchs in
Nowousenka, einem deutschen Dorf in Nordkasachstan auf, wo alles
im Ueberfluss vorhanden war. Nach dem Sonntagsgottesdienst in
Astana denkt die 40-Jaehrige daran zurueck, wie schoen ihre
Heimat war und in welchem Wohlstand sie dort lebten. “Wir waren
reich”, erzaehlt sie. Heute leben fast alle Deutschstaemmigen
dieses Dorfes in Deutschland.

Die ausgebildete Deutsch- und Englischlehrerin zog von
Nowousenka nach Astana um, wo sie Deutsch am Lutherischen Seminar
unterrichtete, bis das Institut schliessen musste. Heute findet
ihr Mann nur noch kleine Gelegenheitsjobs, waehrend sie selbst
Uebersetzungen macht. Sie hat drei Kinder, von denen eines die
Universitaet besucht. Schirochowa ist permanent von Geldsorgen
geplagt. Die Mieten in den neuen Hochhaeusern, die das Stadtbild
der neuen Hauptstadt Astana praegen, sind extrem hoch und es gibt
immer weniger Arbeit, besonders wenn man kein Kasachisch
spricht.

Schirochowas Gesicht hellt sich auf, als sie von der Zeit
erzaehlt, in der so viele Menschen den Sonntagsgottesdienst in
Astana besuchten, dass nicht alle in die Kirche passten und viele
im Vorhof stehen mussten. Heute nimmt nur noch eine Handvoll
Menschen an den Gottesdiensten teil. 

Die aelteren Frauen tragen in der Kirche auch heute noch einen
schwarzen Rock, eine weisse Bluse und auf dem Kopf ein kleines
dreieckiges Kopftuch. Nach dem Gottesdienst singen sie deutsche
Kirchenlieder. An diesem warmen sommerlichen Sonntagmorgen liegt
in ihren schoenen Stimmen ein Hauch von Melancholie, von
Sehnsucht nach laengst vergangenen Zeiten und nach FreundInnen
und Familienangehoerigen, die jetzt in der Ferne leben.

Die riesige Emigrationswelle hat dazu gefuehrt, dass die
Gottesdienste heute auf Russisch gehalten werden. Infolgedessen
hat die Kirche sich von einer traditionell deutschen Kirche, die
deutsche Traditionen und Sprache bewahrte, in eine multiethnische
Kirche verwandelt. “Wir sind von einer monoethnischen zu einer
multiethnischen Kirche geworden. Nur so haben wir eine Chance
fuer die Zukunft. Dadurch bieten sich uns vor allem in den
Staedten viele Moeglichkeiten, aber unsere personellen und
finanziellen Mittel sind begrenzt”, erklaert Nowgorodow.

Unter Stalin war es den LutheranerInnen nicht erlaubt, ihren
Glauben offen zu praktizieren. Deshalb sehen einige der
lutherischen Kirchen in Kasachstan wie normale Wohnhaeuser aus.
In diesem Land mit einer Bevoelkerung von 16 Millionen Menschen
sind weniger als zwei Prozent ProtestantInnen, waehrend die
MuslimInnen mehr als die Haelfte der Bevoelkerung ausmachen. Seit
dem Untergang der Sowjetunion bekennen sich immer mehr Menschen
in diesem multiethnischen Land zu einer Religion. 

Schirochowas Antrag auf Einwanderung nach Deutschland, wo
bereits ihre Mutter und drei Geschwister leben, wurde abgelehnt.
2008 erhielt ihre Tochter nicht einmal ein Visum, um Verwandte in
Deutschland zu besuchen. Sie erzaehlt von der schwierigen Zeit,
in der die Familie zwischen der Hoffnung auf Emigration und
dunkleren Momenten der Verzweiflung hin und her schwankte, bis
der Antrag schliesslich abgelehnt wurde. “Es waren sechs
schreckliche Jahre, in denen wir gewartet haben - ein Leben aus
dem Koffer”, berichtet sie und beklagt, dass ihre Kinder ihre
Familie nicht kennen. 

Zudem macht sie sich immer groessere Sorgen um ihre Zukunft als
bekennende Christin in Kasachstan. “Seit einiger Zeit haben wir
manchmal richtig Angst, weil dies ein muslimisches Land ist. Und
das ist immer mehr der Fall.”

>Loyalitaet und Engagement 

Rund 450 Kilometer von der Hauptstadt entfernt leitet
Schirochowas Halbbruder Stanislaw Mikula, der - wie fast alle
uebrig gebliebenen Pfarrer in diesem riesigen Land - lutherischer
Laienprediger ist, die zweite Gemeinde in Pawlodar. Vor neun
Jahren gruendete er diese Gemeinde und seither nehmen rund 25
Menschen regelmaessig am Sonntagsgottesdienst teil. Die Woche
ueber arbeitet Mikula als Traktorfahrer, die Sonntage reserviert
er fuer die Predigten in der kleinen Kirche. Er hat eine
Einreisegenehmigung fuer Deutschland erhalten, aber er will mit
seiner jungen Familie hier bleiben, weil er sich seiner Gemeinde
zutiefst verpflichtet fuehlt und hier seine Lebensaufgabe
gefunden hat. 

Nach dem dreitaegigen Besuch bei der ELKRK verspricht
LWB-Generalsekretaer Noko Bischof Nowgorodow und seinen Pfarrern,
dass er sich weiter fuer die kasachische Kirche stark machen
werde. “Ich tue das deshalb, weil Sie als Lutheraner und
Lutheranerinnen diese Zeit mit unvorstellbarer Kraft
durchgestanden und ueberlebt haben. Ihr Glaube, dem Sie unter
schwierigsten Bedingungen, mit wenig finanziellen und anderen
Mitteln und trotz der langen Wege, die Sie zuruecklegen muessen,
die Treue gehalten haben, hat Ihnen dabei geholfen. Ich habe die
lutherische Kirche in Kasachstan in mein Herz geschlossen”,
erklaerte Noko. (1.402 Woerter)

(Eine Feature von LWI-Korrespondentin Anli Serfontein.)

Dieser Artikel gehoert zu einer Feature-Serie, die sich mit dem
Thema der Elften Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes -
“Unser taegliches Brot gib uns heute” - beschaeftigt. Die
Vollversammlung findet vom 20. bis 27. Juli 2010 in Stuttgart
(Deutschland) statt.

>*       *       *

Der Lutherische Weltbund (LWB) ist eine Gemeinschaft
lutherischer Kirchen weltweit. 1947 in Lund (Schweden)
gegruendet, zaehlt er inzwischen 140 Mitgliedskirchen, denen rund
68,5 Millionen ChristInnen in 79 Laendern weltweit angehoeren.

Das LWB-Sekretariat befindet sich in Genf (Schweiz). Das
ermoeglicht eine enge Zusammenarbeit mit dem Oekumenischen Rat
der Kirchen (OeRK) und anderen weltweiten christlichen
Organisationen. Der LWB handelt als Organ seiner Mitgliedskirchen
in Bereichen gemeinsamen Interesses, z. B. oekumenische und
interreligioese Beziehungen, Theologie, humanitaere Hilfe,
Menschenrechte, Kommunikation und verschiedene Aspekte von
Missions- und Entwicklungsarbeit.

Die LUTHERISCHE WELT-INFORMATION (LWI) wird als
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