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Implikationen der Rechtfertigung in den Kontexten der Welt
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FRANK_IMHOFF.parti@ecunet.org (FRANK IMHOFF)
Date
25 Nov 1998 20:09:27
DOKUMENTATION
Am Reformationstag, 31. Oktober 1998, Lutherstadt, Wittenberg
*Einfuehrung
Mehr als 60 Theologinnen und Theologen aus der ganzen Welt kamen vom 27.
bis 31. Oktober in der Lutherstadt Wittenberg zusammen, um nach der
Bedeutung der "Rechtfertigung in den Kontexten der Welt" zu fragen.
Eingeladen hatte der Lutherische Weltbund, der Mitgliedskirchen gebeten
hatte, juengere Lehrerinnen und Lehrer der Theologie fuer diese
Konsultation zu nominieren. Verantwortlich fuer das inhaltliche Programm
war die Abteilung fuer Theologie und Studien des LWB. Es ging in dieser
Tagung nicht um eine Fortsetzung der Diskussion um die "Gemeinsame
Erklaerung zur Rechtfertigungslehre" des Lutherischen Weltbundes und der
roemisch-katholischen Kirche, sondern um den Versuch einer
Neuinterpretation dieser Lehre. Ausgangspunkt dieser Tagung war die
Relevanzfrage, denn die Wahrheit des Evangeliums von der Rechtfertigung
betrifft das Leben und kann daher ohne den Bezug zum gegenwaertigen
Menschen nicht vermittelt werden.
Die "Implikationen der Rechtfertigung in den Kontexten der Welt" sind in
einem Prozess entstanden. Eine sechskoepfige, international besetzte, von
der Leitung der Tagung unabhaengige Arbeitsgruppe hatte die Aufgabe, die
Referate und Diskussionen im Blick auf einen Ertrag durchzuarbeiten und
stellte das von ihr erarbeitete Papier am letzten Tag der Tagung dem
Plenum vor. Das reagierte mit Anerkennung und Kritik.
Die konstruktive Kritik wurde von einigen Mitgliedern der Gruppe in
Schlusserklaerungen verarbeitet und in das Papier aufgenommen. Dieser
ueberarbeitete Text ging dann noch einmal an alle Mitglieder der
Arbeitsgruppe, um schliesslich im Blick auf die Einarbeitung der
verschiedenen kritischen Gesichtspunkte seine endgueltige Fassung zu
erhalten.
Der jetzt vorliegende Text ist ein Arbeitspapier, das an die
Mitgliedskirchen des LWB zur weiteren Besinnung auf die Bedeutung der
"Rechtfertigung heute" verschickt wird. Wenn es darueber hinaus in der
interessierten Oeffentlichkeit beachtet wird, trifft das durchaus das
Anliegen der Tagung, die ihren Charakter nicht nur durch ihre
Interkulturalitaet erhielt, sondern auch durch ihre Interdisziplinaritaet.
Die Beitraege der Tagung werden in einem Buch veroeffentlicht, das auch
dieses Arbeitspapier enthaelt. Erst im Kontext dieser Beitraege erhaelt
das Papier seinen vollen Sinn und werden seine Anliegen in ihrer
Komplexitaet deutlich.
* * *
An die Mitgliedskirchen des Lutherischen Weltbundes
Brueder und Schwestern in Christus
Wir gruessen Euch im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes
*Vorwort
Die Frohe Botschaft von der Rechtfertigung bezieht sich auf menschliche
Erfahrungen und verkuendigt klar, dass die Menschen nicht durch gute
Werke, sondern aus Gnade allein durch den Glauben aufgrund des Verdienstes
Jesu Christi erloest wird. Wenn wir diese Frohe Botschaft als Gabe des
Heiligen Geistes hoeren und ihr Glauben schenken, empfangen wir Christus,
leben in ihm, und deshalb ist unser Leben gewiss in Gott. Fuer unser Heil
brauchen wir nichts zu tun, wir sind nie gezwungen, irgendeine geistliche
Belohnung zu verdienen. Durch das Evangelium sind wir vom Druck des
Gesetzes befreit und koennen somit ein erfuellteres Leben in Freiheit und
Liebe fuehren, das das Gesetz im Geiste von Jesus Christus befolgt.
Das ist der Kern der Frohen Botschaft, ausgedrueckt in der Sprache der
Tradition. Die Tagung in Wittenberg hat sich in ihren Beitraegen bemueht,
diese Formeln zu explizieren und den Ort der Rechtfertigungslehre in dem
Denken und Fuehlen der Menschen heute zu bestimmen. Es wurde gefragt:
Stehen wir mit unseren existentiellen Fragen nicht wieder dort, wo Luther
einst stand? Fragen wir nicht neu nach dem Sinn, dem Ursprung und Ziel,
die allem innewohnen und unserem schwankenden, bedrohten Leben einen Grund
geben? Wie verstehe ich das "Leben in Christus" heute? Und bedeutet das
theologisch nicht, die einseitige christologische Konzentration durch den
trinitarischen Bezug zu ueberwinden? Die folgenden Reflexionen legen nicht
den Schwerpunkt auf diese Fragen, sondern konzentrieren sich auf bestimmte
Implikationen der Rechtfertigung fuer ein in Freiheit gelebtes
christliches Leben.
Die Frohe Botschaft von der Rechtfertigung, wie sie zur Reformationszeit
mit der Stimme Martin Luthers neu vernommen wurde, bedeutete Troestung
fuer bedraengte Gewissen und Verheissung groesserer Wuerde fuer die
Menschen der damaligen Zeit. Die Menschen, die damals unterdrueckt waren
von einem religioesen System, das sie im Blick auf den Sinn ihres Lebens
und ihrer Zukunft in Furcht und Zweifel hielt, wurden befreit zu einem
freieren und erfuellteren Menschenleben durch die Neuentdeckung der Gnade
in Jesus Christus, dem fleischgewordenen Wort des dreieinigen Gottes.
Diese Botschaft richtet sich an alle Menschen zu allen Zeiten und an jedem
Ort. Doch diese Botschaft ist wiederum verdunkelt worden durch neue
allgemein verbreitete Botschaften und Systeme, die das Leben der Menschen
mit Angst, Selbstzweifel, einem Gefuehl der Sinnlosigkeit und erzwungener
Selbstrechtfertigung vor anderen belasten. Waehrend damals die
Unterdrueckung durch ein religioeses System geschah, was auch heute noch
geschehen kann, wirken heute riesige und komplexe Wirtschafts-und
Kommunikationssysteme und Ideologien zusammen und beschaedigen die
persoenliche und gemeinschaftliche Integritaet der Menschen und die der
Naturwelt.
Daher laden wir - eine Versammlung von juengeren Theologen und
Theologinnen aus der ganzen Welt, die waehrend vier Tagen ueber dieses
Thema nachgedacht haben - getreu dem lutherischen christlichen Zeugnis die
Mitgliedskirchen des Lutherischen Weltbundes ein, folgende Ueberlegungen
als Implikationen der Rechtfertigung fuer unser Leben in der Welt heute zu
erwaegen:
*Was Rechtfertigung bedeuten kann...
*Im Kontext der Weltwirtschaft
1. So wie es heute aussieht, beherrscht das System der neoliberalen freien
Marktwirtschaft die Welt und predigt eine Ideologie, naemlich dass die
Menschen durch Produktion, Wohlstand und Konsum gerechtfertigt werden. Der
"Markt" erhebt den Anspruch zu rechtfertigen, und er verurteilt;
dementsprechend werden Nationen und Voelker je nach den Marktbedingungen
bewertet und muessen sich entsprechend anpassen, wodurch sie ihrer ihnen
zustehenden Autonomie und Wuerde beraubt werden. Darueber hinaus erhebt
der Markt den Anspruch, das Glueck zu definieren und moechte sich durch
die Ideologie des Perfektionismus selbst rechtfertigen.
2. Die Botschaft von der Rechtfertigung gewaehrleistet und versichert
jedoch, dass fuer keinen Menschen seine Identitaet und seine Bestimmung
den wirtschaftlichen Verhaeltnissen unterworfen ist. Rechtfertigung
impliziert, dass wirtschaftliche Systeme auf kooperative Prozesse hin
ausgerichtet werden koennen und keine Ideologien entwickeln.
Rechtfertigung versetzt die Menschen in eine auf Liebe gegruendete
Beziehung zu Gott und strebt von Liebe getragene zwischenmenschliche
Beziehungen an, und zwar durch lokale und globale Strukturen der
gegenseitigen Anerkennung. Als gerechtfertigte Menschen zu leben bedeutet
konkret, dass den Entwicklungslaendern nicht einfach vorgeschrieben werden
darf, sich in den freien Markt einzuordnen. Ob er ein Potential fuer einen
Zuwachs an sozialer Gerechtigkeit bedeutet, haengt von der Verwirklichung
sozialer Gerechtigkeit in der Gestaltung des Marktes ab. Was sind seine
geistigen, ethischen Kriterien? Die Annahme von Rechtfertigung wird zu
einem vertieften Dialog zwischen Nord und Sued wie auch zwischen Sued und
Sued fuehren, so dass entsprechende Vorkehrungen fuer ein gerechtes Leben
und einen gerechten Handel getroffen werden koennen, wie es zum Beispiel
fuer das Erlassjahr 2000 vorgesehen ist.
3. Rechtfertigung befreit von der Tyrannei des Marktes und ruft Christen
und Christinnen dazu auf, sich derer anzunehmen, die zu Opfern eines
Marktes geworden sind, der die natuerlichen Ressourcen ausbeutet und der
Wuerde der Person schadet . Darueber hinaus bedeutet Rechtfertigung, dass
wir eine zukunftsfaehige Wirtschaft praktizieren, die die Erde bewahrt und
nicht auf Aufrechterhaltung eines hohen Profites fuer einige wenige
ausgerichtet ist. Rechtfertigung verwehrt sich gegen die "Religion der
Produktivitaet" und deren anmassenden doktrinaeren Optimismus und
offenkundige Vorbestimmung. Rechtfertigung stellt klar, dass Gottes
oikonomia jeder anderen Oekonomie uebergeordnet ist, und nach Gottes
oikonomia werden Barmherzigkeit und Gerechtigkeit geschaffen.
*Im Kontext der weltweiten Kommunikation
4. Die neuen globalen Kommunikationssysteme schaffen eine durch
Information verbundene Gesellschaft mit der Verheissung einer weltweiten
harmonischen Gemeinschaft von freien und gleichberechtigten Menschen.
Soweit solche Systeme wahrhaft Kommunikation moeglich machen, entsprechen
sie den Implikationen der Rechtfertigung und sollten durch die Kirchen
soweit wie moeglich zur Verbreitung der Botschaft von der Rechtfertigung
benutzt werden. Die vielversprechenden Moeglichkeiten der
Kommunikationstechnologie werden jedoch dadurch beeintraechtigt, dass nur
eine Minderheit Zugang zu diesen Systemen hat, dass die beherrschende
westliche Welt mit dieser Technologie auf eine erneute Kolonisierung
anderer Kulturen zusteuert, dass Menschen voneinander getrennt werden und
dass in der Information nicht unterschieden werden kann zwischen Fakten,
Meinungen, Wissen oder Erkenntnissen. Zur Rechtfertigung gehoert, dass wir
uns den messianischen Verheissungen der Massenkommunikationssysteme
entgegenstellen und uns fuer deren konkrete Foerderung von wahrer
Gemeinschaft einsetzen.
*Im Kontext geschlechtsspezifischer Anliegen
5. Gottes Liebe steht allen zur Verfuegung. Gott gibt der Liebe den
Vorrang. Gott kuemmert sich um jeden einzelnen Menschen mit seinen
jeweiligen materiellen oder seelischen Sorgen. Im Zusammenhang mit
geschlechtsspezifischen Anliegen hebt die Lehre von der Rechtfertigung die
Gleichwertigkeit von Frauen und Maennern hervor. Dies fordert uns dazu
heraus, klischeehafte und verallgemeinernde Auffassungen ueber die
Beziehungen zwischen Frauen und Maennern zu ersetzen durch ein
einfuehlsames Verstehen der eigentlichen Lebensbedingungen beider
Geschlechter. Wir werden auch dazu herausgefordert, Frauen fuer
Leitungsfunktionen zu suchen, sie dazu zu ermutigen und auszubilden, so
dass alle Teile der Weltgemeinschaft eine Stimme erhalten und sie in der
Kirche und der Zivilgesellschaft vertreten sind.
6. Mit einer aus Rechtfertigung erwachsenen Sensibilitaet laesst sich
Suende in rechter Weise erkennen. Oft hat man Suende mit
Selbstgerechtigkeit gleichgesetzt. Das trifft zwar oft zu, doch spiegelt
Suende im Sinn von Selbstgerechtigkeit die Erfahrung vieler Frauen nicht
richtig wider, da ihr Platz in der patriarchalischen Gesellschaft es ihnen
nahe legte, sich gering zu schaetzen. In dieser Situation wurden Frauen
nicht ermutigt, in sich zu "investieren", aus Furcht, dass es als
"selbstgerecht" ausgelegt werden koennte. Rechtfertigung laesst nicht zu,
dass die eigene Persoenlichkeit, das Selbst, trivialisiert wird und
fordert Systeme heraus, die Menschen daran hindert, die Achtung und das
erfuellte Leben, das ihnen als von Gott Geliebte zusteht, zu geniessen.
Rechtfertigung bedeutet, dass wir auf die Frauen in den verschiedenen
Kontexten hoeren werden, um die befreiende Liebe Gottes konkret zu
verkuenden.
*Im Kontext des Pluralismus
7. Um uns zum rechtfertigenden Glauben zu fuehren und uns darin zu
staerken, ist Christus gegenwaertig, vermittelt durch das Evangelium und
die Sakramente, und wir sind gehalten, dies mit Hilfe der Grammatik
unseres Glaubens weiterzuinterpretieren. Rechtfertigung bedeutet auch,
dass unsere Gerechtigkeit nicht fixiert ist auf Formeln, mit denen wir den
Glauben vermitteln, sondern gewaehrleistet ist durch den Christus, den wir
bekennen. Weil wir Christus noch nicht im vollen Sinne verstanden haben
und unser Glaube an Christus als Retter aller Menschen im Zentrum bleibt,
koennen wir als Gerechtfertigte offen bleiben im Verstaendnis anderer
Menschen, ihrer Religionen und Ueberzeugungen, sie mit der Liebe Christi
annehmen und uns mit liebevollem Zeugnis ihnen gegenueber oeffnen.
Rechtfertigung kann bedeuten, dass wir uns im Dialog mit Menschen anderer
Glaubensrichtungen neuen Erkenntnissen oeffnen, die unseren ueberlieferten
Auffassungen entsprechen und dennoch ueber sie hinausgehen, ohne dabei
unsere grundlegenden Ueberzeugungen aufs Spiel zu setzen.
8. Die Botschaft von der Rechtfertigung im pluralistischen Kontext geht
davon aus, dass die Gnade Gottes in Christus universal ist. Wir, die wir
um unsere Rechtfertigung wissen, sind daher dazu aufgerufen, bereit zu
sein, Solidaritaet als Form unseres Zeugnisses zu praktizieren.
Solidaritaet bedeutet tiefe Freundschaft und Verfuegbarkeit fuer andere.
Die gerechtfertigte Kirche wird sich dem Leiden in allen Kontexten
stellen. Solidaritaet mit anderen, besonders mit den Leidenden, bedeutet
in einem multireligioesen Kontext, dass wir den mit anderen Menschen
leidenden Christus bezeugen, statt andere mit unseren Botschaften oder
Taten zu beherrschen.
9. Saekularitaet gehoert zum pluralistischen Wesen der Welt und kann
Freiheit und Solidaritaet staerken. Doch hinterfragt die Botschaft von der
Rechtfertigung die unaufhoerlichen Beeintraechtigungen der Menschenwuerde,
wie sie durch eine Denkweise des Saekularismus verursacht wird, die neue
Formen der Gnadenlosigkeit produziert. Es hat sich gerade in der Neuzeit
die Rechtfertigungsproblematik verschaerft. Die Menschen sehen sich
unaufhoerlich gezwungen, ihre Existenz gegenueber anderen zu
rechtfertigen. Dabei sind sie zugleich Anklaeger und Angeklagte. Wer in
den sich steigernden Anforderungen des Lebens nicht mitspielt, muss sich
staendig rechtfertigen oder hat seine Daseinsberechtigung verloren. In
dieser Situation bedeutet Rechtfertigung in Christus, dass Gott uns
befreit von dem schrecklichen Zwang zu fordern und anzuklagen, uns
staendig selbst zu rechtfertigen und abzusichern. Gottes Rechtfertigung in
Christus enthaelt die Wahrheit des Lebens, die von den Luegen des Lebens
befreit. Gerechtfertigte Suender brauchen sich nicht an einem
pathologischen Lebensstil zu beteiligen, der Menschen anklagt und
Suendenboecke sucht. Auch in den verschiedenen pluralen Kontexten werden
die von Gott Gerechtfertigten sich bemuehen, die Frohe Botschaft dem
Kontext entsprechend zu vermitteln und dabei Begriffe zu vermeiden, die im
saekularen Raum naiv erscheinen und in anderen religioesen Kulturen
schlichtweg fremdartig wirken. Durch die Globalisierung fast aller
wichtigen sozialen Prozesse wird jedoch zunehmend der neuzeitliche
Rechtfertigungsdruck ein gemeinsames Problem.
*Angesichts von boesen Maechten
10. Wie bereits gesagt, halten zahlreiche neue Tyrannen die Menschen in
Knechtschaft und es sind anonyme und "uebernatuerliche" Kraefte, die
praktisch jenseits unserer Fassungskraft und Kontrolle sind. Die oben
benannten soziooekonomischen und soziopolitischen Kraefte koennen an
bestimmten Orten direkt als boese erkannt werden und fordern die
Widerstandskraft von uns heraus. Christen und Christinnen werden
versuchen, das, was Luther "Deiche gegen die Suende" nannte, in politische
und wirtschaftliche Strukturen umzusetzen, zugleich die persoenliche
Zuwendung zu Menschen suchen und geistlichen Beistand geben. In ihrem Tun
leben sie von der Wahrheit in Jesus Christus. Kirche als Leib Christi
realisiert sich in einer Vielfalt von Diensten und Funktionen, deren Zweck
es ist, aufzubauen und dem Boesen zu wehren.
*Im Kontext der Kirche
11. Die Kirche ist eine erste Konsequenz der Rechtfertigung. Als
gesellschaftliche Groesse muss die christliche Gemeinschaft genauso wie
jedes einzelne Glied dieser Gemeinschaft Tag fuer Tag zu ihrer
gerechtfertigten Identitaet zurueckfinden. Wenn die Kirche in der
Gewissheit der Rechtfertigung lebt, kann sie prophetisches Zeugnis wagen
und braucht sich nicht verpflichtet zu fuehlen, die Erfolgskriterien der
jeweiligen Kultur nachzuahmen. Die Kirche muss sich dessen bewusst sein,
dass auch sie verderbt werden kann. Christliche Freiheit ist auch
Freiheit, unsere Schuld anzunehmen. So kann die gerechtfertigte Kirche ihr
Versagen und ihre Schuld zugeben. Sie braucht keine chronisch defensive
Haltung aufrechtzuerhalten. Die gerechtfertigte Kirche kann alle Menschen
einschliesslich ihrer eigenen Glieder freudig und entgegenkommend
behandeln und im taeglichen und liturgischen Leben Raum schaffen fuer
spuerbare Erfahrungen der Gnade. Die gerechtfertigte Kirche wird auch
befreit von dem Druck, "die Menschen wieder zur Kirche zurueckzufuehren",
und kann sich so darauf konzentrieren, wie sie ein ueberzeugendes Zeugnis
ablegen kann. Und schliesslich braucht die gerechtfertigte Kirche sich
nicht einmal mit Bezug auf die Theologie der Rechtfertigung zu
rechtfertigen, sondern sie kann und wird sich einsetzen fuer die
Vermittlung der Rechtfertigung in aller Welt. In dieser Hinsicht kann die
Kirche eine Botschaft der Rechtfertigung und eine Form der Gnade sein.
*Zum Schluss: Rechtfertigung als Aufruf zum apostolischen Zeugnis
12. Wie bei allen neuen Bezeugungen des Evangeliums ging es bei der
Reformation nicht nur darum, eine Lehre zu verbreiten. Es ging vielmehr
darum, dass der Heilige Geist das Leben der Menschen erleuchtet und
staerkt und sie zu neuen Einsichten kommen laesst sowie sie dazu
motiviert, diese Gabe miteinander zu teilen. Zur reformatorischen
Erkenntnis der Rechtfertigung gehoerte die Entdeckung, dass das Evangelium
sich an die jeweiligen Kontexte der menschlichen Gesellschaften richtet,
was zu einer Befreiung der Person und der Gemeinschaft fuehrt und
letztendlich zu voller und verantwortungsbewusster Eigenstaendigkeit in
der Gemeinschaft. Gott und nur Gott liebt die Welt, liebt uns und nimmt
uns bedingungslos an und schafft uns dadurch Raum zur Veraenderung und zum
Handeln in Liebe. Der Glaube bekennt: Gegen Gottes gerechtfertigtes Volk
kann keine Elementarmacht siegen. Das zeigt sich im gelebten
Christusvertrauen.
Heute sagen wir von neuem, dass wir durch Gottes unbedingte Zuwendung
befreit werden, unseren Naechsten zu lieben und nicht mit Ideologien zu
instrumentalisieren sowie die Gerechtigkeit in einer Weise zu foerdern,
die gegenueber einzelnen Menschen und gegenueber Strukturen einfuehlsam
ist und keine neuen ungerechten Verhaeltnisse zu schaffen. Die
Menschenrechte sind ein zentrales Feld fuer diese Implikation der
Rechtfertigung, denn Gottes unbedingte Zuwendung will Wirklichkeit sein im
persoenlichen und sozialen, politischen Bereich, und es ist die Kraft des
Rechtfertigungsglaubens, die zwischen goettlichem und menschlichen
Handeln, Gottes Zuwendung und menschlicher Verantwortung unterscheidet und
nicht vermengt.
Gerechtfertigte Menschen werden durch Gottesdienst, Gebet und diakonisches
Handeln Gott loben und den Menschen dienen. Sie hoeren auf Gottes Wort und
sind zu Gottes Mitarbeitern berufen. In der Erfuellung des apostolischen
Auftrags in ihrer Zeit nehmen sie konkret vorweg, was in der Herrlichkeit
des dreieinigen Gottes verheissen ist.
Obwohl unsere Bemuehungen, das Leben zu schuetzen und zu foerdern, nicht
ausreichen und Lebensluegen noch maechtig sind, ist die Rechtfertigung in
Christus in allen Kontexten der Welt gueltig. Gerechtfertigte Menschen
werden sich daher danach sehnen, teilzuhaben am Gottes Handeln. Soli Deo
Gloria!
***
Lutherische Welt-Information (lwi)
Deutsche Redakteurin: Karin Achtelstetter
E-mail: ka@lutheranworld.org
http://www.lutheranworld.org/
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