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Nablus - eine Geisterstadt
From
"Frank Imhoff" <FRANKI@elca.org>
Date
Tue, 23 Apr 2002 12:48:58 -0500
Bericht ueber den Hilfskonvoi sechs christlicher Organisationen
nach Nablus am 20. April 2002
Ein Bericht von Bruder Elija von der katholischen Gemeinschaft
Agnus Dei, Jerusalem (Redaktionell gekuerzt)
Vorbemerkung:
Eigentlich sollte selbstverstaendlich sein, dass die
journalistische Taetigkeit von der Liebe zur Wahrheit getragen
wird. Doch dies ist in der gegenwaertigen Lage im Heiligen Land
bei all den widerspruechlichen Informationen gar nicht so leicht
umzusetzen. Deshalb folgende Bemerkung:
a) als Christ liebe ich beide Voelker, die Israelis bzw. die Juden
als meine *aelteren Brueder", und die muslimischen Araber als
meine *juengeren Brueder". Meine Berichterstattung ist weder
pro-israelisch noch contra-palaestinensisch oder umgekehrt. Ich
beschreibe, was ich sehe und gebe wieder, was ich hoere. Eigene
Gedanken und Interpretationen bzw. Fragen sind klar erkennbar von
den Fakten abgegrenzt.
b) die Berichte ueber Tulkarem, Anabta und Nablus entstanden, weil
ich den Hilfskonvoi einer oekumenischen Initiative begleiten
konnte. Die Vorschriften des Konvois erlaubten nicht, in den
betroffenen Staedten zu recherchieren. Deshalb bleibt die
Berichterstattung auf die wenigen Eindruecke beschraenkt, die im
Rahmen der Aufgabe des Konvois gesammelt werden konnten.
Nach Bethlehem, Tulkarem und Anabta, war Nablus das naechste Ziel
des Hilfskonvois verschiedener christlicher Gemeinschaften.
Diesmal hatten sich auch VertreterInnen der orthodoxen Kirche
angeschlossen. Der Konvoi bestand aus vier Lastwagen und sechzehn
Begleitfahrzeugen mit insgesamt ca. 60 Menschen. An der
Sammelstelle zur Abfahrt hoerte ich, wie ein protestantischer
Pfarrer nachdenklich sagte: "Frueher sind wir nach Nablus
gefahren, um zu essen, heute bringen wir Nahrung dorthin."
Die strukturelle oekumenische Zusammenarbeit hat, so wurde ich
vonm Beauftragten des Lutherischen Weltbundes (LWB) fuer Frieden
und Gerechtigkeit in Palaestina und Israel, Rudolf Hinz,
aufgeklaert, durchaus grossen Seltenheitswert. Nur im Sudan und in
Aethiopien gab es aehnliche Kooperationen. Die Not im Heiligen
Land und die christliche Solidaritaet liess also dieses
bemerkenswerte Projekt entstehen.
Die Hinfahrt durch eine wunderschoene Landschaft verlief ohne
Zwischenfaelle bis zum Checkpoint unmittelbar vor Nablus. Dort war
wieder langes Warten angesagt. Endlich kamen wir in die Stadt zum
Lebensmitteldepot fuer Fluechtlinge der Vereinten Nationen. Es
dauerte nicht lange, da waren Schuesse zu hoeren. Zwar waren sie
nicht auf den Konvoi gerichtet, demonstrierten jedoch die
Anwesenheit der israelischen Soldaten auf den Huegeln und
erinnerten alle nachdruecklich daran, dass wir uns in einem
aktuellen Kriegsgebiet befanden.
War dieser Empfang schon unfreundlich, dann wurde es mehr als
bedrueckend, als wir ins Stadtzentrum fuhren. Zerstoerte und stark
beschaedigte Haeuser, zusammengeschossene und von Panzer
ueberrollte Autos, aufgerissene Strassen, liegengebliebener Muell,
ein Marktplatz mit leeren Kisten ...
Das Schlimmste war aber die unheimliche, fast gespenstische
Stille, die ueber dieser alten Stadt mit seinen rund 200.000
EinwohnerInnen lag. Die Strassen waren menschenleer. Es herrschte
Ausgangssperre. Da und dort konnte man hinter den Fenstern
Menschen sehen, die auf unseren Konvoi schauten. Wir hatten
wahrhaftig eine Geisterstadt betreten und die Angst war ueberall
greifbar.
Nur zwei Jungen konnte ich entdecken, die sich sehr vorsichtig
durch die Gassen schlichen, um uns zu sehen. Da ein israelischer
Panzer auf der Strasse stand, blieben sie in sicherem Abstand.
Dieser fast unheimliche Eindruck machte wohl alle Begleiter des
Konvois sehr betroffen.
Die naechste Entladungsstelle war die oertliche Feuerwehr. Dort
hielten sich im Innenhof einige Feuerwehrleute auf. Ich nutzte die
kurze Zeitspanne des Aufenthalts fuer ein Interview mit einem
Sprecher der Behoerde in Nablus. Er berichtete, dass am 3. April
gegen 21 Uhr Hunderte israelischer Panzer, gepanzerte Fahrzeuge
und Bulldozer in die Stadt eingerueckt seien und ihr
Zerstoerungswerk begonnen haetten. Bis heute wuerden 71
Todesopfer, darunter 5 Kinder beklagt. Es wuerde aber noch eine
unbekannte Anzahl Toter unter den Truemmern befuerchtet, die
meisten der Opfer seien Zivilisten. 215 Personen seien verhaftet
worden, davon 15 Kinder und 19 Frauen.
Die massivsten Schaeden trug die Altstadt davon, die auch von F16-
Kampfflugzeugen bombardiert wurde. Eine erste Untersuchung ergab,
so das Pressebuero von Nablus, dass mehrere Moscheen und auch
Kirchen grosse Schaeden erlitten bzw. fast vollstaendig zerstoert
wurden. Zweihundert Haeuser seien teilweise zerstoert. 80 Prozent
der Strassen, wertvolle alte Haeuser aus verschiedenen
Zeitepochen, eine Schule, der Markt, ca. 500 Geschaefte, zwei
Seifenfabriken sowie die Wasser- und Stromversorgung seien
erheblich beschaedigt oder voellig zerstoert worden.
Wenn ich auch nicht die Moeglichkeit hatte, diese Angaben zu
ueberpruefen, war das, was ich bei der Weiterfahrt zur
katholischen Gemeinde sehen konnte, nicht anders als ein Werk der
Zerstoerung zu bezeichnen. Und wieder diese unheimliche Stille
einer grossen, sicher sonst pulsierenden Stadt. Bei der Pfarrei
hoerte ich, dass diese Ausgangssperre bereits seit dem 3. April
besteht. Gibt es Ausgang, eilen die Menschen zum Markt, nur gibt
es dort keine Waren. Morgens und abends wuerden Panzer durch die
Stadt fahren und schiessen, obwohl niemand auf der Strasse sei. So
verbreiten die Panzer Angst und Schrecken. An Schlaf sei nicht zu
denken.
Der griechische Pfarrer der orthodoxen Gemeinde berichtet von der
Zerstoerung von Ikonen und anderen Schaeden an seiner Kirche. Noch
waehrend der kurzen Ausladezeit kamen vier vollbesetzte Panzer
angerollt. Unsere Aktion wurde beobachtet und manche neugierigen
EinwohnerInnen, die sich aus dem Haus getraut hatten, wurden
wieder zurueck in ihre Haeuser beordert.
Eine kurze Entladeaktion beim Krankenhaus - niemand ausser den
HelferInnen durfte aussteigen - beendete die Mission in Nablus,
die weniger als zwei Stunden dauerte. Beim Verlassen dieser
Geisterstadt eindeckten wir doch noch eine Strasse, in der
Menschen zu sehen waren. Allerdings blieben sie nur in dieser
Strasse und trauten sich lediglich, uns zuzuwinken.
Bedrueckt fuhren wir zurueck, am Ausgangscheckpoint mussten wir
wieder lange warten. Die jungen manchmal recht freundlichen und
wachen Gesichter der Soldaten standen in einem eigenartigen
Kontrast zu den Zerstoerungen und der geisterhaften Stimmung in
Nablus. Ob sie wissen, was sie tun?
Immer mehr Fragen stellen sich mir. Vorausgesetzt man hat mir die
Wahrheit gesagt: Warum kommen so viele Menschen um und darunter
Kinder? Warum zerstoert man Kirchen und Moscheen, wenn man
TerroristInnen sucht? Welchen Sinn ergibt es, die Bevoelkerung in
Angst und Schrecken zu versetzen und sie im naechtlichen Schlaf zu
stoeren (das wird uebrigens auch von Bethlehem berichtet)? Was
wird mit der Verhaengung einer so lange andauernden Ausgangssperre
beabsichtigt?
Als ich dann am naechsten Tag in den Nachrichten hoere, dass sich
die israelische Armee teilweise aus Nablus zurueckgezogen habe,
merke ich, wie wenig Nachrichten aussagen. Vielleicht sind sogar
Dutzende von Panzern abgezogen worden, aber es reichen wenige aus,
um die eingeschuechterte Bevoelkerung in Schach zu halten!
Es macht mich mehr als traurig, meine "aelteren Brueder" so
handeln zu sehen. Keine Frage, die Selbstmordaktionen
palaestinensischer Maenner und Frauen sind eine schreckliche
Geissel und eine quasi unberechenbare Gefahr. Religioes motiviert
koennen sie aus christlicher Sicht nur als eine furchtbare
Verirrung angesehen werden. MaertyrerInnen geben ihr Leben fuer
Gott und fuer andere und reissen nicht unbeteiligte Menschen
bewusst in den Tod!
Ob die 70 Prozent der Israelis jedoch, die angeblich den
gegenwaertigen Kurs der Regierung stuetzen, wirklich wissen, was
in den besetzten Gebieten tatsaechlich vor sich geht? Es ist
nachzuvollziehen, dass man sich gegen diese Anschlaege zur Wehr
setzt und die Schuldigen und ihre Hintermaenner sucht. Das, was
aber jetzt in den besetzten Gebieten geschieht, ist wohl kaum mehr
als Praevention zu bezeichnen.
Ob hier nicht, aehnlich wie bei der amerikanischen Antwort auf den
11. September, die Grenze des Angemessenen und Verantwortbaren
schon weit ueberschritten wird und andere politische Ziele
zumindest in einer Koexistenz verfolgt werden? Nicht einmal mehr
das Prinzip "Auge um Auge und Zahn um Zahn" kommt zur Geltung,
denn dazu sind die militaerischen Kraefte zu ungleich verteilt.
Das israelische Militaer vermag ein ganzes Volk gefangen zu
nehmen. Und als Gefangene in ihrem eigenen Land betrachten sich
die PalaestinenserInnen. Sollte sich in Jenin gar bewahrheiten,
dass ein Massaker stattgefunden hat, wie waere das zu
rechtfertigen?
Welchen Ausweg gibt es aus dieser Sackgasse? Den Eindruck von
Nablus als Geisterstadt werde ich nicht mehr vergessen. Wir
brauchen Sicherheit, sagen die Israelis, wir wollen Gerechtigkeit,
die PalaestinenserInnen. Beides muss doch moeglich sein!
Ich muss an den kleinen Tross denken, der in diese Geisterstadt
einfaehrt, um Lebensmittel und Medikamente zu bringen. Keine
Waffen, keine Steine, keine Bomben! "Soldiers of Peace". Geduldig
warten sie, bis sie ihre Waren abliefern koennen und fahren wieder
weg, um den naechsten Konvoi vorzubereiten - nach Jenin. Nicht
Geschaeft oder Macht ist die Motivation, auch keine
Selbstverteidigung, sondern schlicht und einfach die Liebe, eine
selbstlose Liebe dem "Bruder Mensch" gegenueber. Keine grossen
Gesten, kein Aufsehen! Sie und viele andere, die sich von Gott und
ihrem Herzen zum Guten bewegen lassen, geben mir Hoffnung!
Vielleicht finden wir ja auch in der Politik Einzelne, die ihren
Dienst in diesem Geist verrichten und die innere Kraft haben
"Frieden zu stiften".
Der Weg, dass sich die beiden Voelker im Heiligen Land als Brueder
erkennen, ist wohl noch weit! Jeder Tag der Gewalt auf beiden
Seiten macht diesen Weg jedoch schwieriger. Die Lage wirkt so
verworren, dass manche meinen, dass eine Loesung dieser Situation
"beim Menschen unmoeglich ist." Gott sei Dank gibt es aber noch
den zweiten Teil des Satzes, den Jesus nicht unausgesprochen
laesst. "Bei Gott ist alles moeglich!" So kann er Situationen
wenden, wenn er wenigstens einige Menschen hat, die auf ihn
hoeren. Nach ihnen wird er sicher Ausschau halten! (1.492 Woerter)
* * *
Der Lutherische Weltbund (LWB) ist eine Gemeinschaft lutherischer
Kirchen weltweit. 1947 in Lund (Schweden) gegruendet, zaehlt er
inzwischen 133 Mitgliedskirchen, denen rund 60,5 Millionen der
weltweit rund 64,3 Millionen LutheranerInnen in 73 Laendern
angehoeren.
Das LWB-Sekretariat befindet sich in Genf (Schweiz). Das
ermoeglicht eine enge Zusammenarbeit mit dem Oekumenischen Rat der
Kirchen (OeRK) und anderen weltweiten christlichen Organisationen.
Der LWB handelt als Organ seiner Mitgliedskirchen in Bereichen
gemeinsamen Interesses, z. B. oekumenische Beziehungen, Theologie,
humanitaere Hilfe, Menschenrechte, Kommunikation und verschiedene
Aspekte von Missions- und Entwicklungsarbeit.
Die LUTHERISCHE WELT-INFORMATION (LWI) wird als Informationsdienst
des Lutherischen Weltbundes (LWB) herausgegeben. Veroeffentlichtes
Material gibt, falls dies nicht besonders vermerkt ist, nicht die
Haltung oder Meinung des LWB oder seiner Arbeitseinheiten wieder.
Die mit "LWI" gekennzeichneten Beitraege koennen kostenlos mit
Quellenangabe abgedruckt werden.
***
LUTHERISCHE WELT-INFORMATION
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Deutsche Redaktion: Dirk-Michael Groetzsch
E-Mail: dmg@lutheranworld.org
Tel.: +41-22-791-6353
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