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Namibia: Versoehnungstreffen nach 100 Jahren


From "Frank Imhoff" <Frank.Imhoff@elca.org>
Date Wed, 15 Dec 2004 17:43:59 -0600

Namibia: Versoehnungstreffen nach 100 Jahren
Die Familien Maharero und von Trotha reichen sich im Geist der
Versoehnung die Haende 

Windhoek (Namibia)/Genf, 15. Dezember 2004 (LWI) - Am Montag, 15.
November 2004, fand in der evangelischen Kirche des winzigen Dorfs
Ginsheim bei Mainz (Deutschland) ein ungewoehnlicher Gottesdienst statt.
"Ginsheim ist ein kleiner Ort, an dem Grosses geschehen ist", erklaerte
Bischof Reinhard Keding von der deutschsprachigen
Evangelisch-Lutherischen Kirche in Namibia (ELKIN-DELK), der gemeinsam
mit dem Ginsheimer Gemeindepfarrer den Gottesdienst leitete. Er sprach
zu zwei Familien, deren Namen seit 100 Jahren durch eine geteilte
Geschichte schmerzlich miteinander verstrickt sind: der deutschen
Familie von Trotha und der namibischen Familie Maharero.

Chief Alfons Maharero reiste im November 2004 nach Deutschland, um den
Nachfahren des Generals von Trotha "in die Augen zu schauen". Alfons
Maharero ist ein Enkel von Samuel Maharero, des Oberhaeuptlings der
Herero, der 1904 den deutschen Kolonialherren den Krieg erklaerte,
nachdem sein Volk 20 Jahre lang unter kolonialer Fremdherrschaft,
Unterdrueckung und Landenteignung gelitten hatte. Der Krieg endete schon
wenige Monate spaeter mit der Schlacht am Waterberg und dem
groesstenteils erfolglosen Versuch der Herero, ins benachbarte
Bechuanaland zu fluechten. Im Oktober 1904 erliess der Oberbefehlshaber
der deutschen Truppen, General Lothar von Trotha, seinen beruechtigten
Schiessbefehl, in dem er die Vernichtung des Herero-Volkes anordnete. 

Durch den Krieg, auf der Flucht und in Gefangenenlagern kamen
schaetzungsweise 60.000 beziehungsweise 80 Prozent der Herero um. Die
Ueberlebenden wurden von ihren Wohnsitzen und Ahnengraebern vertrieben,
ihr Vieh wurde konfisziert und damit ihre Lebensgrundlage und Kultur
zerstoert. In dem Vernichtungsfeldzug wurden auch schaetzungsweise
10.000 Angehoerige der Nama und 17.000 Damara getoetet. 

Seit 100 Jahren ist der Name Lothar von Trotha fuer die Herero die
Verkoerperung allen Schreckens und der weitgehenden Vernichtung ihres
Volkes. Mit ungebrochener Trauer und Bitterkeit gedenken sie des
Vernichtungsfeldzuges vor 100 Jahren, denn die Herero sind bis heute
eine kleine, verarmte und entmachtete Bevoelkerungsgruppe in Namibia
geblieben. Mit etwa acht Prozent der Gesamtbevoelkerung haben sie auch
in dem seit 1990 unabhaengigen, demokratischen Namibia wenig Chancen,
ihre besonderen Interessen in der von den Ovambo dominierten
Regierungspartei zu vertreten. Die bisher von der deutschen
Bundesregierung geleistete Entwicklungshilfe in Hoehe von ueber 500
Millionen Euro, die als Anerkennung der besonderen Verantwortung einer
ehemaligen Kolonialmacht verstanden wird, kommt den Herero nur in
bescheidenem Masse zugute. 

Wunsch nach Versoehnung auf beiden Seiten

Der Wunsch nach einem Treffen zwischen den Familien Maharero und von
Trotha kam von beiden Seiten. Waehrend Chief Alfons Maharero dem
deutschen Botschafter in Namibia, Dr. Wolfgang Massing, von seinem
Wunsch berichtete, einmal das Land zu besuchen, aus dem vor 100 Jahren
so viel Leid in seine Heimat getragen wurde, wandten sich VertreterInnen
der in Deutschland lebenden von Trothas an Bischof Keding von der
ELKIN-DELK in Namibia mit der Frage, wie man im Gedenkjahr 2004 Gesten
der Versoehnung mit den heute lebenden Herero finden koennte. Auf
Vermittlung von Bischof Keding lud die Evangelische Kirche in
Deutschland (EKD) Chief Maharero ein, nach Deutschland zu reisen, um
sich mit der Familie von Trotha zu treffen und sich im Geiste der
Versoehnung die Hand zu reichen.

Mit viel Umsicht und Einfuehlungsvermoegen haben die von Trothas ihren
Teil zum Heilen der Wunden beigetragen. "Wir koennen uns weder
entschuldigen noch wieder gutmachen, was vor 100 Jahren geschehen ist",
erklaerte Wolf-Thilo von Trotha, Vorsitzender des Familienverbandes,
Mitte November bei einem Treffen beider Familien auf der Insel Nonnenau
bei Ginsheim am Rhein. "Aber zumindest koennen wir der Familie Maharero
zeigen, dass die von Trothas heute nicht mehr fuer Rassismus und Gewalt
stehen, sondern fuer Versoehnung und Anerkennung des Schmerzes der
Herero." In einer Erklaerung an den Gast aus Namibia drueckte die
Familie unmissverstaendlich ihr Bedauern darueber aus, dass zwischen
1904 und 1907 Zehntausende Herero durch brutale und fuer sie heute
unbegreifliche Aktionen der deutschen Schutztruppe unter Lothar von
Trothas Befehl zu Tode kamen. 

Fuer Chief Alfons Maharero war diese ungewoehnliche Begegnung angesichts
des tiefen Schmerzes nicht einfach. Aber er wisse, "dass man sich ins
Gesicht schauen muss, um zu erkennen, ob Heilung und der Blick nach vorn
moeglich sind", erklaerte er den zahlreich erschienenen Mitgliedern der
Familie von Trotha. "In unserer Kultur kann man nicht miteinander
vorwaerts gehen, bevor man einander versteht. Daher wollte ich Sie sehen
und kennen lernen." Es sei wichtig, dass beide Familien, deren Vorfahren
sich in einem schrecklichen Krieg bekaempft haetten, heute den Mut
faenden, miteinander zu sprechen und somit zur Versoehnung zwischen
Deutschland und Namibia beizutragen. Vor allem hoffe er, so Maharero,
dass diese Gespraeche zukuenftige Generationen inspirieren, "zu Huetern
des Friedens und der guten Beziehungen zwischen unseren Laendern zu
werden".

Neue Wege der Wiedergutmachung

Das Treffen mit der Familie von Trotha sei nicht der Abschluss, sondern
der Beginn eines Versoehnungsprozesses, fasste Chief Maharero seine
Eindruecke des Besuchs auf der Insel Nonnenau zusammen. Damit schlaegt
er eindeutig einen anderen Weg ein als der in Europa wesentlich
bekanntere Herero-Chief Kuaima Riruako, der seit drei Jahren vor einem
US-amerikanischen Gericht Klage gegen die deutsche Bundesregierung und
deutsche Unternehmen fuehrt und Reparationen in Milliardenhoehe fuer die
Herero fordert. Vor allem nach der oeffentlichen Entschuldigung der
deutschen Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul Mitte
August dieses Jahres, setzen Chief Maharero und andere Herero-Chiefs in
Namibia auf eine neue Qualitaet des Dialogs zwischen Namibia und
Deutschland. 

Unbeeindruckt von juristischen Spitzfindigkeiten, ob eine foermliche
Entschuldigung moeglicherweise Chief Riruakos Entschaedigungsforderungen
zusaetzliches juristisches Gewicht verleihen koennte, hatte die
Ministerin auf einer Gedenkfeier am 14. August am Waterberg mit den
Worten des Vaterunser um Vergebung fuer die Verbrechen der Deutschen an
den Herero vor 100 Jahren gebeten und sich damit die Herzen und das
Vertrauen vieler NamibierInnen erobert. Die traditionellen Anfuehrer der
Herero hoffen nun, dass die "brave lady" (tapfere Lady), wie sie in
Namibia inzwischen liebevoll genannt wird, im Rahmen der
deutsch-namibischen Entwicklungszusammenarbeit den Beduerfnissen der
Herero groesseren Nachdruck verleiht. Auf seiner kurzen Deutschlandreise
besuchte Chief Maharero die Bundesministerin in Berlin (Deutschland).
Dort versprach Wieczorek-Zeul, die deutsch-namibische Zusammenarbeit
noch staerker als bisher darauf auszurichten, die Traumata, die die
Verbrechen der deutschen Truppen verursacht haben, zu heilen, und das
gegenseitige Vertrauen und den Dialog zu staerken. 

Das Licht der Versoehnung anzuenden

In der kleinen Ginsheimer Kirche spuerte man die historische Bedeutung
des Augenblicks: Bischof Keding stellte zwei Kerzen aus Namibia auf den
Altar und bat Chief Maharero und Wolf-Thilo von Trotha, sie gleichzeitig
zu entzuenden. Die Kerzen wurden nach dem Gottesdienst als Zeichen der
Erinnerung an diesen Tag ausgetauscht. Fuer das abschliessende
Vaterunser stellten sich alle GottesdienstbesucherInnen in einen Kreis,
reichten sich die Haende und beteten in Deutsch und Herero. "Ich habe
das Gefuehl, dass der Heilungsprozess begonnen hat", erklaerte Chief
Maharero am Ende seiner Reise. 

Bereits im Januar dieses Jahres hatten Bischof Keding und Bischof Dr.
Zephania Kameeta von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in der Republik
Namibia (ELKRN) in einem oekumenischen Gedenkgottesdienst in der
namibischen Hauptstadt Windhoek an die blutige Niederschlagung des
Hereroaufstandes vor 100 Jahren erinnert und zur Versoehnung aufgerufen.
(1.127 Woerter)

Weitere Informationen zum Gottesdienst im Januar in Windhoek finden Sie
auf der LWB-Webseite unter:
www.lutheranworld.org/news/lwi/de/1424.de.html. 

(Ein Beitrag von LWI-Korrespondentin Erika von Wietersheim, Namibia.) 

Dieser Beitrag gehoert zu einer Feature-Serie der Lutherischen
Welt-Information (LWI) zum Thema der Zehnten LWB-Vollversammlung 2003
"Zur Heilung der Welt". Die Serie beleuchtet die Relevanz des
Vollversammlungsthemas in den verschiedenen regionalen und lokalen
Kontexten der weltweiten lutherischen Gemeinschaft und stellt Projekte
der Versoehnung und Heilung vor angesichts weltweiter Bedrohung. Auch
nach Abschluss der Zehnten Vollversammlung, die vom 21. bis 31. Juli
2003 in Winnipeg (Manitoba/Kanada) stattfand, bildet das
Vollversammlungsthema einen der Schwerpunkte der Arbeit des LWB.

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