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Praesident lutherischer Kirche in Costa Rica gegen Freihandelsabkommen mit den USA
Interview mit Pfr. Melvin JimÃnez zu Auswirkungen des Abkommens auf die Bevoelkerung
San Jose (Costa Rica)/Genf, 4. Oktober 2007 (LWI) â Am 7. Oktober findet in Costa Rica eine Volksabstimmung zu der Frage statt, ob das mittelamerikanische Land ein Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika unterzeichnen soll. Zu diesem Thema hat sich der Praesident der Lutherischen costa-ricanischen Kirche (ILCO), Pfr. Melvin JimÃnez, in einem Interview mit der Lutherischen Welt-Information (LWI) geaeussert. JimÃnez ist aktiv an einer Koalition zivilgesellschaftlicher Gruppen beteiligt, die sich gegen das Freihandelsabkommen engagiert.
LWI: Herr Praesident JimÃnez, bitte beschreiben Sie, welche Folgen fuer die Bevoelkerung drohen, sollte die costa-ricanische Regierung das Freihandelsabkommen beschliessen, und warum ein Engagement gegen die Ratifizierung des Vertrags erforderlich ist.
Pfr. Melvin JimÃnez: Das Freihandelsabkommen mit den USA wird in verschiedenen Bereichen gravierende Auswirkungen auf die Bevoelkerung Costa Ricas haben. So zum Beispiel im Bereich Landwirtschaft: Importe subventionierter Agrarprodukte aus den USA waeren existenzbedrohend fuer unsere kleinbaeuerlichen Betriebe. Und mit diesen Betrieben wuerde der laendliche Raum einerseits Arbeitsplaetze und Erwerbsmoeglichkeiten, andererseits traditionelle baeuerliche Familienstrukturen verlieren, in denen jedes Mitglied seinen Beitrag leistet.
Im Bereich Gesundheit: Eine sozial orientierte Gesundheitsversorgung stuetzt sich, was den pharmazeutischen Bereich betrifft, in grossem Mass auf Generika. Mit der geplanten Verlaengerung des Patentschutzes wuerden die Kosten fuer Generika in der Freihandelszone um 300 bis 1.000 Prozent ansteigen. Die unerschwinglich hohen Kosten neuer Medikamente zu Markenpreisen wuerden das sowieso schon knappe Gesundheitsbudget unseres Landes noch zusaetzlich belasten, wodurch es fuer den Staat noch schwieriger waere, die fuer das nationale Gesundheitswesen benoetigten Generika zu beschaffen.
Im Bereich Kommunikation: Bisher funktionieren Telekommunikation und Versicherungswesen in Costa Rica nach dem Solidarprinzip â wer es sich leisten kann, zahlt mehr und subventioniert damit Versicherungsschutz, Stromversorgung und Telefonanschluesse in laendlichen Gebieten. Das Freihandelsabkommen wuerde alle diese grundlegenden Leistungen in Frage stellen, da Unternehmen ausschliesslich an rentablen Produkten und Nischen interessiert waeren.
Im Bereich Arbeitsmarkt: Um in Mittelamerika konkurrenzfaehig zu bleiben, muesste Arbeit billiger werden. Die sogenannte âFlexibilitaetâ der Arbeitskraefte wuerde mehr betont, mit der Konsequenz, dass Arbeitsschutznormen wie der Acht-Stunden-Tag, der 13. Monatslohn, Koalitionsfreiheit, bezahlter Urlaub und so weiter in Gefahr waeren. Arbeitnehmende und ihre Organisationen liefen Gefahr, in der Vergangenheit erkaempfte Rechte zu verlieren.
Im Bereich Ressourcen: Costa Rica verfuegt ueber riesige Ressourcen im Meer, sowie an Wasser generell, deren Schutz in dem geplanten Abkommen nicht vorgesehen ist. Viele internationale Konzerne haben bereits grosses Interesse an der Privatisierung derartigen Gemeinguts signalisiert.
LWI: Wie haben andere lokale Partner innerhalb der Koalition darauf reagiert, dass sich eine Kirche an der Kampagne beteiligt?
Pfr. Melvin JimÃnez: Angesichts der Neutralitaet der roemisch-katholischen Kirche und des klaren Ja zum Freihandelsabkommen seitens einiger Verantwortlicher vor allem aus dem Bereich der Pfingstkirchen begruessen ein erheblicher Teil der evangelischen Kirchen wie a uch die gesellschaftliche Bewegung selbst, die gegen die Unteeintritt, die Beteiligung und das Engagement einer protestantischen Kirche in dieser zivilgesellschaftlichen Koalition. Verschiedene Stimmen beschreiben die Beteiligung der ILCO als âgeistlichen Kampfâ und staerken die lutherische Kirche damit in ihrer Selbstverpflichtung auf den Weg der Gerechtigkeit, wie ihn zuerst die Propheten und schliesslich auch Jesus verkuendigt haben.
LWI: Was hat die ILCO aus ihrer Arbeit in der Koalition gelernt?
Pfr. Melvin JimÃnez: Die lutherische Kirche engagiert sich seit zwei Jahren gegen das Freihandelsabkommen, unter Verwendung verschiedener Informationsmaterialien fuer Frauen, junge Menschen und Gemeinden allgemein. Im September haben wir so zum Beispiel einige Veranstaltungen durchgefuehrt, in deren Rahmen auch Gemeinwesen besucht und Bibelarbeiten zur Thematik angeboten wurden. In vielen unserer Gemeinden wird in den Sonntagsgottesdiensten das Thema Freihandelsabkommen aufgegriffen, was wiederum die entsprechende inhaltliche Vorbereitung der Predigt voraussetzt. Gemeindemitglieder, Geistliche und andere Verantwortliche der ILCO nehmen an Demonstrationen teil und viele von ihnen engagieren sich auch persoenlich in der Koalition. Mithilfe von Infoblaettern und Runden Tischen auf der lokalen Ebene fuehren sie die Aufklaerungsarbeit unter der Bevoelkerung fort.
LWI: Wie wird Ihrer Meinung nach die Volksabstimmung ausgehen â erwarten Sie Sieg oder Niederlage fuer Ihre Koalition?
Pfr. Melvin JimÃnez: Zu unserer auf der nationalen Ebene agierenden Koalition gehoeren ueber 200 lokale Ausschuesse in den unterschiedlichsten, auch entlegenen, Gemeinwesen Costa Ricas, die sich rund um die Uhr dafuer engagieren, schlichtweg allerorts das Bewusstsein der Oeffentlichkeit fuer die Problematik zu schaerfen. Sie sind an Bushaltestellen praesent, besuchen Privathaushalte, organisieren Runde Tische, veranstalten Kulturfestivals und vieles mehr. Darueber hinaus wird Fundraising betrieben, um Materialien, Verwaltungskosten, die Mobilisierung zur eigentlichen Volksabstimmung am 7. Oktober sowie die Beobachtung ihres Verlaufs zu finanzieren. Der Optimismus, dass wir ein positives Ergebnis erzielen werden, ist gross.
Aber es wird wichtig sein, eine wirksame Beobachtung der Abstimmung sicherzustellen, da in manchen Gebieten moeglicherweise eine Manipulation durch die Industrie zu befuerchten ist, die mit allen Mitteln ein Ja zum Freihandelsabkommen herbeifuehren will. In dieser Situation entsteht ein Klima der Gewalt und Intoleranz. Daher ermutigen wir alle Christinnen und Christen, die Ereignisse um die Volksabstimmung wachsam zu begleiten und zu beobachten und unnachgiebig gegen Korruption vorzugehen, damit der gesamte Prozess transparent verlaufen kann.
LWI: Die lateinamerikanischen lutherischen Kirchen engagieren sich seit langem wirksam fuer den Erlass aller illegitimen Auslandsschulden. Gibt es hier Zusammenhaenge mit der Freihandelsproblematik?
Pfr. Melvin JimÃnez: In beiden Kampagnen geht es darum, dem Menschen Vorrang zu geben. Einfache Buergerinnen und Buerger sollten ein Leben in Fuelle und Wuerde geniessen und sich gegen alle Finanz- oder Handelssysteme engagieren koennen, die unsere Gesellschaften kontrollieren und den Menschen die Ausuebung ihres Rechts auf Entwicklung verwehren wollen. Die Verurteilung jeglicher illegitimer Verschuldung, die nicht der Entwicklung der Bevoelkerung diente, beziehungsweise aller Handelsabkommen, die darauf abzielen, den Reichen groesstmoegliche Vorteile zu verschaffen, all dies gehoert in denselben Kontext des Widerstands. Wie er aussehen soll, da mag jedes Land seinen eigenen Ansatz entwickeln, je nach der Situation vor Ort und mit den je passenden Methoden fuer die Bewusstseinsbildung und Mobilisierung der Bevoelkerung zur Verteidigung der eigenen Rechte.
Hier hat die biblische Dimension grosse Bedeutung: Christinnen und Christen sollen ermutigt werden, sich zu engagieren und diesem Engagement fuer soziale G erechtigkeit in ihrem christlichen Leben einen zentralen PKirchenleitende der Region tragen wir Verantwortung dafuer, den Menschen die Einsicht zu vermitteln, dass es keinen Widerspruch gibt zwischen Gebet und Engagement, dem Leben mit der Bibel und dem Eintreten fuer Gerechtigkeit â dass all dies unverbruechlich zum Leben als Christinnen und Christen dazugehoert.
LWI: Was ist aus Ihrer Sicht im Engagement gegen ungerechte Handelssysteme und -politik die Rolle der weltweiten oekumenischen Familie?
Pfr. Melvin JimÃnez: Die Kirchen weltweit sind nicht passiv. Ich sehe jedoch ein riesiges Vakuum und grossen zusaetzlichen Handlungsbedarf im Blick auf die Vernetzung der Arbeit regionaler und internationaler Netzwerke, damit ein systematisches Engagement in diesem Bereich gelingen kann. Was unsere Kirchen zu sagen haben, findet â unabhaengig davon, wie gross oder klein sie sind â in unseren Laendern Gehoer. Noch wirksamer koennte ihre Botschaft werden, wenn unsere Partnerkirchen im Norden sich bei ihren eigenen Regierungen in aehnlicher Weise engagieren wuerden, da dies meist grossen Einfluss auf unsere Regierungen hat.
Nicht alle Kirchen der lutherischen Gemeinschaft im Norden sind jedoch jederzeit so aktiv in diesem Engagement, das ueber die Entwicklungszusammenarbeit hinausgeht, denn die betreffenden Fragen beruehren die politischen Situation in bestimmten Laendern sowie die Beziehungen zwischen Kirche und Staat. Wir brauchen eine prophetischere und evangelischere, solidarischere und âkaempferischereâ Haltung. Dies jedoch kann eine kleine Kirche alleine nicht leisten. Hier sind Planung, Koordination, Finanzierung und Argumentation durch die oekumenische Familie notwendig â vergleichbar mit unserer Arbeit auf der lokalen Ebene.
Eine weitere Herausforderung wird sich in naher Zukunft stellen: die Verhandlungen ueber ein umfassendes Assoziationsabkommen zwischen der Europaeischen Union und Mittelamerika werden sowohl politisch als auch hinsichtlich der Dimensionen Handel und Investitionen bedeutsam sein. Dies scheint mir der gegebene Moment, uns den Herausforderungen zu stellen. Es ist an der Zeit, die Kirchengemeinschaft, als die wir uns verstehen, auf den Pruefstand zu stellen.
Die Lutherische costa-ricanische Kirche hat rund 1.300 Mitglieder. Sie gehoert seit 2002 dem Lutherischen Weltbund (LWB) an. Ihre diakonische Arbeit konzentriert sich auf die indigene Bevoelkerung, MigrantInnen (vor allem aus Nicaragua) und Strassenkinder.
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Der Lutherische Weltbund (LWB) ist eine Gemeinschaft lutherischer Kirchen weltweit. 1947 in Lund (Schweden) gegruendet, zaehlt er inzwischen 140 Mitgliedskirchen, denen rund 66,7 Millionen ChristInnen in 78 Laendern weltweit angehoeren.
Das LWB-Sekretariat befindet sich in Genf (Schweiz). Das ermoeglicht eine enge Zusammenarbeit mit dem Oekumenischen Rat der Kirchen (OeRK) und anderen weltweiten christlichen Organisationen. Der LWB handelt als Organ seiner Mitgliedskirchen in Bereichen gemeinsamen Interesses, z. B. oekumenische und interreligioese Beziehungen, Theologie, humanitaere Hilfe, Menschenrechte, Kommunikation und verschiedene Aspekte von Missions- und Entwicklungsarbeit.
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