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Kampf gegen Stigmatisierung und Diskriminierung ist ein Beitrag fuer Gewissens- und Religionsfreiheit
Argentinische Regierung wuerdigt lutherischen Pfarrer fuer langjaehrige HIV und AIDS-Arbeit
Buenos Aires (Argentinien)/Genf, 30. November 2007 (LWI) - Der argentinische Pfarrer Lisandro Orlov ist fuer sein langjaehriges Engagement fuer von HIV und AIDS betroffene Menschen ausgezeichnet worden. Der Staatssekretaer fuer religioese Angelegenheiten des argentinischen Aussenministeriums, Botschafter Guillermo Oliveri, wuerdigte die Arbeit des 65-Jaehrigen sowie der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche (IELU) am 22. November im Rahmen der Feierlichkeiten aus Anlass des 26. Jahrestags der Einfuehrung des âTages der Gewissensfreiheit und der religioesen Freiheit in der Republik Argentinienâ.
Fuer Orlov, Koordinator fuer die Region Lateinamerika der weltweiten Kampagne des Lutherischen Weltbundes (LWB) gegen HIV und AIDS, ist die Auszeichnung ein Beleg dafuer, dass das Engagement der IELU im Bereich HIV und AIDS nicht mehr als eine Aufgabe angesehen wird, âdie dem Bereich des Gesundheitswesens zuzuordnen ist, sondern als ein Beitrag fuer die Gewissens- und Religionsfreiheitâ. In einem Interview mit der Lutherischen Welt-Information (LWI) betonte der Theologe, dass sowohl die argentinische Gesellschaft als auch die Regierung die Schwerpunktsetzung der Arbeit wahrgenommen haetten, die sich gegen Stigmatisierung und Diskriminierung richte.
âUnsere Arbeit wird als Vertiefung des demokratischen Systems und der Achtung des Pluralismus in all seinen Auspraegungen aufgefasstâ, so Orlov, der seit 1986 eine oekumenische und solidarische Initiative der IELU fuer Menschen mit HIV und AIDS koordiniert und eine Einrichtung leitet, in der 15 Menschen leben, die von HIV und AIDS betroffen sind. Konzept der Einrichtung ist es, Betroffene in Krisensituationen fuer kurze Zeit aufzunehmen, um gemeinsam mit ihnen durch das Angebot von seelsorgerlicher, psychologischer, medizinischer sowie juristischer Beratung ein neues Lebenskonzept zu erarbeiten.
Die Auszeichnung durch die argentinische Regierung ist fuer Orlov auch eine Wuerdigung der LWB-Kampagne âAnteilnahme, Umkehr, Zuwendung: Kirchen reagieren auf die HIV/AIDS-Pandemieâ und eine Anerkennung fuer die lutherische Gemeinschaft, die von Anbeginn an diese innovative Initiative unterstuetzt hat. âDamit wird unsere Verpflichtung anerkannt, GEMEINSCHAFT herzustellen zu Personen und Gruppen, die schon vor und aufgrund der Epidemie unter Stigmatisierung litten. Es handelt sich zudem um eine Anerkennung des bekundeten Willens der lutherischen Gemeinschaft zur UMKEHR. Sie ging damit das Risiko ein, die Konsequenzen ihres ehrlichen und am Menschen orientierten Dialogs, ihre innere Verwandlung hinsichtlich ihres Seins, Denkens und Handelns, auf sich zu nehmen. Und schliesslich handelt es sich auch um eine Anerkennung ihrer Entschlossenheit, bedingungslos jeder Person zu HELFEN im Hinblick auf den Zugang zu Information, Praevention und Pflege.â
Ein wachsendes Interesse von Gruppen der Zivilgesellschaft sowie von einigen Regierungen in der Region an der Arbeit der lutherischen Kirchen in Lateinamerika beobachtet auch der Gebietsreferent fuer Lateinamerika und die Karibik der LWB-Abteilung fuer Mission und Entwicklung (AME), Pfr. Martin Junge. Durch kontinuierliche Arbeit im Kampf gegen die Epidemie haetten die Kirchen ein eigenstaendiges theologisches und pastorales Profil entwickelt. So sei bereits im vergangenen Jahr die LWB-Mitgliedskirche in Costa Rica aufgefordert worden, im Laenderkoordinationsmechanismus (Country Coordination Mechanism, CCM) im Kampf gegen HIV und AIDS mitzua rbeiten.
Laut Junge belegt die Anerkennung von Pfr. Orlov, dass das Profil und die Ausrichtung des Engagements der Kirchen gegen HIV und AIDS nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern auch hervorgehoben und in landesweite Strategien eingebunden werden soll. âDamit scheint ein wichtiges Anliegen der weltweiten LWB-Kampagne gegen HIV und AIDS, dass Kirchen nicht zum Stolperstein, sondern zu aktiven Partnerinnen in der Bekaempfung von HIV werden, erste Anzeichen einer konkreten Umsetzung zu finden.â (554 Woerter)
Im Folgenden finden Sie den vollen Wortlaut des LWI-Interviews mit Pfr. Lisandro Orlov, Leiter des HIV und AIDS-Projekts âPastoral EcumÃnica VIH y SIDAâ in Buenos Aires (Argentinien):
LWI: Wo sehen Sie entscheidende Entwicklungen im Bereich HIV und AIDS in den letzten 20 Jahren, insbesondere im Blick auf die Kirchen?
Pfr. Lisandro Orlov: Als wir 1986 begonnen haben, von HIV und AIDS betroffene Menschen zu begleiten, hatten wir weder Modelle, die wir nachahmen, noch Referenzpunkte, an denen wir uns orientieren konnten. Mit vielen Aengsten haben wir uns auf diesen Weg gemacht und gingen dabei das Risiko ein, dass unsere eigene Gemeinschaft, unsere Gemeinden nicht verstehen wuerden, was wir da in Bewegung setzen. Ich denke, die wichtigste Errungenschaft dieser letzten 20 Jahre war die Bekehrung der lutherischen Gemeinschaft in Lateinamerika, ihre pastorale Arbeit als eine Angelegenheit der Gerechtigkeit und der Menschenrechte zu verstehen.
Diese Arbeit hat sich seit Beginn an der Perspektive und den Erfahrungen orientiert, die wir waehrend der Jahre der Militaerdiktatur in Argentinien, die 1983 ihr Ende fand, gesammelt haben. Ganz so, wie wir damals in jenen tragischen Jahren die Menschenrechte einforderten, haben wir nun diese neue Aufgabe als eine Fortsetzung jenes Einsatzes empfunden. Die Vorurteile und die Stigmatisierung liessen die von der Epidemie betroffenen Personen in aehnlicher Weise verschwinden, so wie auch ihre Rechte als BuergerInnen missachtet wurden.
Die lutherische Gemeinschaft hat gelernt, dass das Thema HIV und AIDS mit der Wuerde der Menschen verknuepft ist, und das ist unser spezifischer Ansatz im Kampf gegen die Epidemie. Es sind weder die medizinischen Daten noch die Statistiken, die uns zum Handeln auffordern, sondern die Foerderung der vollen Ausuebung der Menschenrechte und die umfassende Anerkennung der Wuerde in der Vielfalt.
LWI: Wo sehen Sie im Rueckblick Auswirkungen Ihrer Arbeit auf Kirche und Gesellschaft?
Pfr. Lisandro Orlov: In diesen 20 Jahren des Engagements fuer Menschen mit HIV und AIDS hat die lutherische Gemeinschaft die Werte ihrer eigenen Identitaet entdeckt. Wir haben die revolutionaere Kraft wahrgenommen, die im Kontext der Epidemie im Zuspruch der Rechtfertigung aus dem Glauben liegt, sowie in einem Leben aus dieser Rechtfertigung. Es handelt sich um den Zuspruch fuer die Menschen, die mit dem HI-Virus leben oder von ihm betroffen sind, dass ihr Heil allein von Christus kommt, dass lediglich deren Glaube ihre Zugehoerigkeit zur Gemeinschaft der Glaeubigen begruendet, und dass deren gottgegebene Wuerde von nichts und niemandem beeintraechtigt werden kann.
Die lutherische Gemeinschaft hat ihre alternative Stimme und ihre konfessionelle Identitaet in Lateinamerika im Dialog mit Personen und Gruppen in einer Situation der Verwundbarkeit entdeckt und ist dabei die Verpflichtung eingegangen, eine Gemeinschaft ohne Mauern und Ausgrenzung zu sein; bedingungslos und offen fuer alle.
Die anhaltende Arbeit im Bereich HIV und AIDS hat die lutherische Gemeinschaft zu einer Alternative in der religioesen Landschaft in Lateinamerika werden lassen. Die verschiedenen Netzwerke von Menschen mit HIV und AIDS koennen nun zwischen den verschiedenen Botschaften differenzieren und sehen nicht mehr alle Kirchen als eine einzige, geschlossene Gruppe. Viele wissen inzwischen, dass es eine Gemeinschaft von Kirchen gibt, die etwas anderes zu sagen hat sowohl im Hinblick auf Praevention als auch
auf pastorale Begleitung, sowohl in Hinblick auf die Menschenrechte als auch auf den offenen und alle einschliessenden Dialog.
Die lutherische Gemeinschaft hat ihre eigene Botschaft und ihre konfessionelle Identitaet vertieft. Wir haben gelernt, vernetzt mit den verschiedenen Projekten der Kirche in der Region zu arbeiten sowie in Vernetzung mit Regierungsinstanzen und der Zivilgesellschaft. Wir haben gelernt, dass wir nicht in Isolation arbeiten wollen. Wir haben gelernt, an den Orten gegenwaertig zu sein, wo politische Entscheidungen getroffen werden. Uns ist auch bewusst geworden, dass alle unsere Aktionen im Bereich der pastoralen und diakonischen Arbeit letztlich in konkrete Vorschlaege fuer die Gesetzgebung muenden muessen. Wir wissen um die Wichtigkeit der Anwaltschaftsarbeit fuer diese Gesetzgebung.
LWI: Welche Bedeutung hat fuer Sie diese Auszeichnung durch die argentinische Regierung?
Pfr. Lisandro Orlov: Es ist von Bedeutung, dass diese Anerkennung durch den Staatssekretaer fuer religioese Angelegenheiten des argentinischen Aussenministeriums, Botschafter Guillermo Oliveri, am âTag der Gewissensfreiheit und der religioesen Freiheit in der Republik Argentinienâ verliehen wurde. Unsere HIV und AIDS-Arbeit wird nicht mehr als eine Aufgabe angesehen, die dem Bereich des Gesundheitswesens zuzuordnen ist, sondern als ein Beitrag fuer die Gewissens- und Religionsfreiheit. Dort liegt die Originalitaet und die Bedeutung dieser Anerkennung.
Sowohl die Gesellschaft als auch die Regierung haben wahrgenommen, dass wir uns um die Entwicklung einer Botschaft bemuehen, die sich gegen Stigmatisierung und Diskriminierung richtet. Beides sind Hauptprobleme, die von der Kirche in ihrer pastoralen Arbeit aufgenommen werden muessen. Unsere Arbeit, das Projekt âPastoral EcumÃnicaâ, wird als Vertiefung des demokratischen Systems und der Achtung des Pluralismus in all seinen Auspraegungen verstanden. Nach meiner Auffassung ist diese ideologische Verortung des Projekts und dessen Beitrags eine der wichtigsten Errungenschaften.
Andererseits empfinde ich, dass diese Wuerdigung auch eine Anerkennung fuer die lutherische Gemeinschaft ist, die von Anbeginn an diese innovative und provozierende Initiative unterstuetzt hat. Damit wird unsere Verpflichtung anerkannt, GEMEINSCHAFT herzustellen zu Personen und Gruppen, die schon vor und aufgrund der Epidemie unter Stigmatisierung litten. Es handelt sich zudem um eine Anerkennung des bekundeten Willens der lutherischen Gemeinschaft zur UMKEHR. Sie ging damit das Risiko ein, die Konsequenzen ihres ehrlichen und am Menschen orientierten Dialogs, ihre innere Verwandlung hinsichtlich ihres Seins, Denkens und Handelns, auf sich zu nehmen. Und schliesslich handelt es sich auch um eine Anerkennung ihrer Entschlossenheit, bedingungslos jeder Person zu HELFEN im Hinblick auf den Zugang zu Information, Praevention und Pflege.
LWI: Worin sehen Sie die groessten Herausforderungen im Kampf gegen die HIV und AIDS-Epidemie?
Pfr. Lisandro Orlov: Die unmittelbare Herausforderung fuer die lutherische Gemeinschaft ist das kreative erneute Lesen der Bibel, aber auch die Neuentdeckung ihrer konfessionellen Basis und die sich daraus ergebende Neuformulierung ihrer pastoralen Arbeit im Kontext von HIV und AIDS. Diese Epidemie macht deutlich, dass unsere Schwierigkeiten weder mit dem HI-Virus zusammenhaengen, noch mit den Infektionswegen oder der Art der Praevention. HIV und AIDS offenbart sich als eine Wirklichkeit, die tiefe Auswirkungen auf die biblische und konfessionelle Hermeneutik hat. Wir sind dann herausgefordert, eine alternative Stimme zu werden in einem Kontext eines religioesen Fundamentalismus, der die Gewissensfreiheit bedroht und den Respekt vor der Verschiedenheit leugnet. Die lutherische Gemeinschaft hat die historische Gelegenheit, eine prophetische Stimme zu sein, die das geschwisterliche und harmonische Zusammenleben der versoehnten Verschiedenheiten foerdert, ebenso wie die volle Ausuebung der Buergerre chte aller Menschen.
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Der Lutherische Weltbund (LWB) ist eine Gemeinschaft lutherischer Kirchen weltweit. 1947 in Lund (Schweden) gegruendet, zaehlt er inzwischen 140 Mitgliedskirchen, denen rund 66,7 Millionen ChristInnen in 78 Laendern weltweit angehoeren.
Das LWB-Sekretariat befindet sich in Genf (Schweiz). Das ermoeglicht eine enge Zusammenarbeit mit dem Oekumenischen Rat der Kirchen (OeRK) und anderen weltweiten christlichen Organisationen. Der LWB handelt als Organ seiner Mitgliedskirchen in Bereichen gemeinsamen Interesses, z. B. oekumenische und interreligioese Beziehungen, Theologie, humanitaere Hilfe, Menschenrechte, Kommunikation und verschiedene Aspekte von Missions- und Entwicklungsarbeit.
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