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Feature: Drei Jahre nach der Tsunami-Katastrophe kehrt die Lebensfreude zurueck
LWB/AWD-Laenderprogramm in Indien zieht positive Bilanz
Thirumullaivasal (Tamil Nadu/Indien)/Genf, 21. Dezember 2007 (LWI) - Ja, die Erinnerung schmerze ihn sehr, erzaehlt G. Raju mit stockender Stimme. Doch er habe nichts tun koennen, die Flutwellen seien sechs bis sieben Meter hoch gewesen und er habe nicht zu seinem Haus, zu seiner Familie durchkommen koennen. Die Bilder der furchtbaren Zerstoerung, die der Tsunami vor drei Jahren in seinem Kuestendorf in Suedindien hinterliess, sind in G. Raju noch sehr lebendig.
Am Morgen des 26. Dezember 2004 sass der heute 45-jaehrige Fischer in einer Teestube in Thirumullaivasal im suedindischen Bundesstaat Tamil Nadu. Als er ploetzlich die riesigen Wellen auf sich zurasen sah, konnte er sich noch schnell in Sicherheit bringen. Besonders tueckisch war, dass die Flutwelle das Wasser in den Fluessen und Boddengewaessern meterhoch aufstaute und so von der landeinwaerts gewandten Seite ueber das Dorf hereinbrach. Waehrend er verzweifelt anderen Menschen half, sich zu retten, gelang es ihm nicht, zu seinem Haus vorzudringen und sich um seine Familie zu kuemmern.
Wenig spaeter erfuhr er, dass es auch seinen beiden Toechtern gelungen war, wegzurennen. Doch seine Frau und sein alter Vater hatten keine Chance. Sie waren im Haus geblieben und hatten die Flutwelle nicht kommen sehen. G. Raju verlor seine Frau und seinen Vater, ihr kleines Haus war voellig zerstoert.
Die ersten fuenf Monate nach der Flutwelle lebte G. Raju mit seinen Toechtern noch in der Ruine seines Hauses. Eine provisorische Notunterkunft konnte ihm erst spaeter zur Verfuegung gestellt werden. Auch sein Boot, das er zum Fischen in den Binnen- und Boddengewaessern genutzt hatte, war zerstoert.
Heute, drei Jahre nach der Flutkatastrophe, die allein in Indien schaetzungsweise 16.000 Menschenleben gefordert und Hunderttausende obdachlos gemacht hat, bietet die Lebenssituation von G. Raju ein voellig veraendertes Bild. Ein Laecheln huscht ueber sein Gesicht und er nimmt Jiva, mit der er seit einem Jahr verheiratet ist, an der Hand und bietet bereitwillig eine Fuehrung durch sein neues Haus an.
Neues Glueck im neuen Haus
Ja, er sei wieder gluecklich, betont G. Raju und legt die Arme um seine achtjaehrige Tochter Mageswari und die zehnjaehrige Rajeswari. Die Erinnerung sei schmerzhaft, doch er habe wieder neues Glueck gefunden. Er habe eine neue Frau und ein neues Haus. Und ein so schoenes und massives Haus haette er sich frueher nie leisten koennen, fuegt er hinzu.
Sein Haus gehoert zu einer neuen Siedlung mit 350 Wohnhaeusern sowie gemeinschaftlich genutzten Einrichtungen, die der Lutherische Weltdienst in Indien (Lutheran World Service India, LWSI), ein Laenderprogramm der Abteilung fuer Weltdienst (AWD) des Lutherischen Weltbundes (LWB), mit Unterstuetzung des weltweiten Netzwerks von Kirchen und Partnerorganisationen ACT International (Action by Churches Together - Kirchen helfen gemeinsam) am Rande von Thirumullaivasal errichtet hat.
In dieser Siedlung sei ihnen etwas Einmaliges gelungen, betont Debesh Bhuyan, seit November 2006 Koordinator der Tsunami-Projekte von LWSI. Trotz erheblicher Widerstaende am Anfang lebten nun neben Hochsee- und Binnenfischerfamilien auch Dalitfamilien - frueher unter der Bezeichnung âUnberuehrbareâ bekannt - sowie Angehoerige von zwei weiteren Kasten und ethnischen Gruppen, die im indischen Kastensystem auf einer ganz niedrigen Stufe angesiedelt sind, Haus an Haus. Dem LWSI sei es besonders wichtig gewesen, schon bei der raeumlichen Konzeption der Siedlung jegliche Diskriminierung zu vermeiden, so der 37-Jaehrige.
Neben dieser Siedlung, die entsprechend neuer Richtlinien der indischen Regierung einige hundert Meter hinter der Kuestenlinie errichtet wurde, hat LWSI auch 180 neue Haeuser innerhalb der Ortschaft errichtet. Vorgegangen wurde entsprechend eines Bedarfsplans der indischen Behoerden, ohne deren Genehmigung keine Hilfe geleistet, keine Haeuser errichtet werden durften.
Insbesondere die Regelung, dass neue Haeuser nur fuer Familien gebaut werden durften, die auch die Landrechte besassen, stellte LWSI vor grosse Herausforderungen. Problematisch war dies vor allem fuer Dalits und andere ethnische Gruppen, die aufgrund ihrer niedrigen Stellung im indischen Kastensystem keinerlei Landrechte vorweisen konnten. Im Rahmen der Besiedlungsplaene ist es LWSI jedoch gelungen, auch diesen Gruppen Haeuser und damit Landrechte zuzuweisen.
880 erdbeben-, flut- und sturmsichere Haeuser
Die Architektur aller insgesamt 880 durch LWSI in Zusammenarbeit mit ACT International in 13 Doerfern im Bundesstatt Tamil Nadu errichteten Haeuser basiert auf einer Konzeption, die das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) gemeinsam mit der Bundesregierung von Tamil Nadu erarbeitet hat. Alle Haeuser werden massiv mit lokal hergestellten Ziegelsteinen errichtet.
Um jedoch eine erhoehte Stabilitaet und Sicherheit gegen Wirbelstuerme, Erdbeben und Flutwellen zu erreichen, hat LWSI die Architektur ueberarbeitet. So wurden alle Haeuser mit Decken und Saeulen aus Stahlbeton versehen und eine massive Aussentreppe fuehrt auf eine Dachterrasse. Fuer jedes der 880 Haeuser wurden rund 5.000 US-Doller (USD) aufgewendet, wobei die Kosten in den vergangenen drei Jahren in die Hoehe geschnellt sind. Viele regionale Anbieter haben versucht, von dem ploetzlich enorm angestiegenen Bedarf zu profitieren. Die Preise fuer Zement und Stahl haben sich binnen kurzer Zeit mehr als verdoppelt. Selbst nach Bezahlung der ueberhoehten Preise kam es vor, dass Baumaterialien nicht angeliefert wurden. Die Kosten der Tsunami-Projekte, die LWSI im Bundesstaat Tamil Nadu implementiert hat, belaufen sich seit Dezember 2004 auf insgesamt 5,8 Millionen USD (rund vier Millionen Euro).
Von zentraler Bedeutung fuer die konzeptionelle Arbeit von LWSI ist auch, dass alle neuen HausbesitzerInnen intensiv in den Hausbau einbezogen wurden. Viele haben Zaeune und Mauern um ihre Haeuser gezogen und mit Hilfe von LWSI kleine Gaerten angelegt, in denen sie Gemuese und Obst fuer den taeglichen Bedarf anbauen. Manche Haeuser wurden auch um Vorratsgebaeude und Kochgelegenheiten erweitert. Die Menschen haben ihre neuen Haeuser wirklich in Besitz genommen, auch wenn sie nun einige hundert Meter vom Meer und damit dem urspruenglichen Lebensmittelpunkt entfernt liegen.
Ueberleben trotz geringerer Einnahmen
Ganz ploetzlich wird Familienvater G. Raju ganz geschaeftig und deutet an, dass er nun zum Fischen muesse. Mit einer anderen Familie teilt er sich ein neues Glasfiberboot, das ihm eine franzoesische Hilfsorganisation samt Motor, Netzen und Ausruestung zur Verfuegung gestellt hat. Die 32.000 Indischen Rupien (rund 815 USD/570 Euro) Entschaedigung, die er von der indischen Regierung fuer den Verlust seines Bootes und sein zerstoertes Haus erhielt, haetten nur einen Teil der Kosten decken koennen. Jeden Tag faehrt er nach dem Mittag mit seinem Boot in die Kanaele, Fluesse und Gewaesser im Inland und kehrt mit dem Fang am naechsten Morgen zurueck. Trotz der vielen Stunden im Boot reicht der Fang kaum zum Ueberleben. Der Tsunami hat das oekologische Gleichgewicht im Meer und den Fluessen veraendert. Es gibt weniger und andere Fische im Vergleich zur Zeit vor der Flutwelle. Hinzu kommt, dass die Zahl und Qualitaet der Boote und Fischfanggeraetschaften stark zugenommen hat, wodurch das Risiko einer Ueberfischung des Meeres und der Inlandgewaesser zunimmt.
Doch waehrend sich viele seiner NachbarInnen aufs Klagen verlegt haben, laesst G. Raju die Hoffnung nicht sinken. Er vertraut darauf, dass seine Tageseinnahmen von gegenwaertig 100 bis 200 Rupien (rund 2,5 bis 5 USD/1,75 bis 3,5 Euro) bald wieder zunehmen und er auch alternative Wege finden wird, sein Familieneinkommen zu verbessern.
Katastrophenschutz und Anwaltschaftsarbeit
Neben der Errichtung neuer Haeusern und Einrichtungen liege ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit auch auf der Katastrophenbereitschaft/dem Katastrophenschutz, der Anwaltschaftsarbeit sowie der Einrichtung von einkommensschaffenden Projekten, so Rina Chunder, Referentin fuer Information und Dokumentation bei LWSI. Alle Dorfgemeinschaften, in denen LWSI Tsunami-Projekte verwirkliche, haetten eine Ausbildung im Katastrophenschutz absolvieren muessen. Die Menschen wuessten nun, welche Schutzmassnahmen ergriffen werden muessten, wie Verletzte zu bergen seien und dass bei ernsteren Krankheiten und Verletzungen ein Krankenhaus aufgesucht werden muesse.
Da alle Aktivitaeten ueber die Organisationen und Gruppen des jeweiligen Gemeinwesens durchgefuehrt wuerden, habe dies zu einer verstaerkten Zusammenarbeit mit den Dorfgemeinschaften und den Panchyats, den Dorfraeten, und damit zu einer Stabilisierung der doerflichen Strukturen und Mitbestimmung gefuehrt. Das Programm foerdere eine organisch wachsende Eigenstaendigkeit, wobei vermieden werden solle, sie von aussen zu konstruieren, so Chunder. Damit gehe einher, dass das Programm die Menschen unterstuetze und ermutige, anstatt sie zu versorgen und Leistungen fuer sie zu erbringen.
LWSI wird 2009 selbststaendige lokale Organisation
Nach ueber 30 Jahren als LWB/AWD-Laenderprogramm soll LWSI im Januar 2009 in eine selbststaendige lokale Organisation und damit in ein mit dem LWB assoziiertes Programm ueberfuehrt werden.
Das AWD-Indienprogramm geht auf das Jahr 1974 zurueck und entstand als Reaktion auf das Fluechtlingselend nach dem Unabhaengigkeitskrieg Bangladeschs. Im Rahmen des Programms werden Nothilfeeinsaetze, Massnahmen zum Wiederaufbau und integrierte Entwicklungsprojekte in mehreren Bundesstaaten durchgefuehrt. (1.355 Woerter)
Weitere Informationen zu LWSI finden Sie auf der LWB-Webseite unter: www.lutheranworld.org/What_We_Do/DWS/Country_Programs/DWS-India.html
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Zu diesem Feature stehen Fotos zu Verfuegung. Bei Interesse wenden Sie sich bitte an das LWB-Buero fuer Kommunikationsdienste (dmg@lutheranworld.org).
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Der Lutherische Weltbund (LWB) ist eine Gemeinschaft lutherischer Kirchen weltweit. 1947 in Lund (Schweden) gegruendet, zaehlt er inzwischen 140 Mitgliedskirchen, denen rund 66,7 Millionen ChristInnen in 78 Laendern weltweit angehoeren.
Das LWB-Sekretariat befindet sich in Genf (Schweiz). Das ermoeglicht eine enge Zusammenarbeit mit dem Oekumenischen Rat der Kirchen (OeRK) und anderen weltweiten christlichen Organisationen. Der LWB handelt als Organ seiner Mitgliedskirchen in Bereichen gemeinsamen Interesses, z. B. oekumenische und interreligioese Beziehungen, Theologie, humanitaere Hilfe, Menschenrechte, Kommunikation und verschiedene Aspekte von Missions- und Entwicklungsarbeit.
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